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Rund 16 000 Jahre alte Bison-Darstellungen im spanischen Altamira.

© Hendrik Schmidt/dpa

Neue deutsche Lyrik: Die Schwere des freien Falls

Ein Jahr nach Jan Wagners Sieg beim Leipziger Buchpreis: Wie geht’s der neuen deutschen Lyrik?

Von Gregor Dotzauer

Der Jubel über den Sieg, den Jan Wagner im vergangenen Jahr beim Leipziger Buchpreis mit seinen „Regentonnenvariationen“ davontrug, hallt noch immer so nach, als hätte für die deutsche Lyrikwelt eine neue Zeitrechnung begonnen. Die sogenannte Enzensbergersche Konstante, ohne deren Erwähnung kaum ein Text über das Elend des poetischen Gewerbes auskam, eine Zahl, die die Leser für einen halbwegs anspruchsvollen Gedichtband unabhängig von Moden und Sprachgemeinschaft auf ±1354 beziffert, scheint ein für allemal gesprengt. In Gestalt von Marion Poschmann und ihrem Band „Geliehene Landschaften“ (Suhrkamp) tritt, als ließe man sie das Frühjahrswunder wiederholen, in Leipzig von neuem eine dichtende Kandidatin gegen die Übermacht der Erzähler an.

Jeder einzelne Leser, den die Poesie gewinnt, ist ein Gewinn für jene Erkenntnisfähigkeit von Literatur, die Joseph Brodsky einmal als das süchtig machende Vermögen beschrieben hat, den Geist, das Denken und das Erfassen des Universums auf außerordentliche Weise zu beschleunigen. Doch zu den größten Jublern gehörten auch einige der beharrlichsten Ignoranten. In dem Themenband, den die Zeitschrift „Text + Kritik“ Jan Wagner widmet, beschreibt Michael Braun die überraschende Konjunktur der Poesie zurecht als einen „Fall von nachhaltiger Aufmerksamkeitsstörung“. Wagners erster unübersehbarer Beitrag zur deutschen Lyrik, sein Debüt „Probebohrung im Himmel“, stammt aus dem Jahr 2001. Der neu erschienene Auswahlband „Selbstporträt mit Bienenkorb“ (Hanser Berlin) präsentiert auch daraus einige Stücke, die auch in anderen Zusammenhängen längst anthologisiert sind.

Reich und vielgestaltig ist die deutsche Poesie

Aber warum nicht die Gunst der Stunde nützen? Hundertvierzehn.de, das Online-Magazin des S. Fischer Verlags, stellt eine von Dichtern und Kritikern kommentierte Anthologie mit 114 zeitgenössischen Gedichten zusammen, die ausdrücklich Walter Höllerers repräsentative Sammlung „Transit – Lyrik der Jahrhundertmitte“ von 1956 beerben soll: Die Autoren wurden – und werden – erst im Anhang genannt. Der Preis der Literaturhäuser, verbunden mit einem Festabend in Leipzig und Auftritten in ganz Deutschland, geht an den Berliner Dichter Ulf Stolterfoht, einen assoziativen Sprachverwurstungsmeister, der sich in fast allem als Wagners Gegenteil beschreiben lässt und mit seinen „fachsprachen I-IX“ bereits 1998 debütierte.

Jan Wagner
Jan Wagner

© Arno Burgi/dpa

Wenn man schließlich anfangen würde, die sonst noch bemerkenswerten Neuerscheinungen aufzuzählen, würde man gar kein Ende mehr finden. Aus den ozeanischen Welten, die Dana Ranga, angeregt von Besuchen im Berliner Zooaquarium, in ihrem Debüt „Wasserbuch“ erkundete, begibt sie sich mit „Hauthaus“ (Suhrkamp) nun in die Organtiefen des menschlichen Körpers. Und Hendrik Rost, der in seinen bisher sechs Bänden am liebsten die kleinen Dinge sprechen lässt, präsentiert mit „Das Liebesleben der Stimmen“ (Wallstein) einen Band von halluzinatorischer Klarheit. Der Reichtum der vielgestaltigen deutschen Poesie liegt direkt vor unseren Augen.

Gerade deshalb ist kein Schritt weit genug, um einmal zurückzutreten. Ágnes Nemes Nagy, die bedeutendste ungarische Dichterin des 20. Jahrhunderts, hat aus gutem Grund die Steinzeit als die glänzendste Epoche des Gedichts bezeichnet. „Da hatten sie es so richtig gut: die Poeten, die Schamanen, die Herbeizauberer des täglichen Fleisches, oder Verwalter der Geister“, schreibt sie in ihrem Essay „Büffellos“, der ihren von Franz Fühmann nachgedichteten Band „Dennoch schauen“ beschließt. „Seit wir nicht mehr verlangen, dass Gesangsverse, Rituale und Tänze imstande seien, Büffelherden vor uns hin zu treiben, hat die Glorie des Künstlers begonnen, Abnutzungserscheinungen aufzuweisen.“ Die Poesie, sagt sie mit Blick auf die Bisons an den Höhlenwänden im spanischen Altamira, „ist seit ein paar tausend Jahren büffellos.“ Aus dem magischen „So-als-ob“, dem Glauben an kausale Einwirkungsmöglichkeiten auf die Wirklichkeit, wurde ein „So-als-ob-es-lebte“, der Auftrag zur naturgetreuen Nachahmung. Die Mimesis wiederum, die etwas auf Anhieb Wiedererkennbares herstellen sollte, zerfiel unter dem Ansturm der modernen Naturwissenschaften in einzelne Formelemente, in denen das Analytische über das Synthetische triumphiert: Man wollte, in der Meinung, dem Geheimnis der Kunst so auf die Spur zu kommen, die ästhetischen Botenstoffe isolieren.

Ohne schamanische Reste ist Lyrik undenkbar.

Ágnes Nemes Nagy definiert damit das Spannungsfeld, in dem sich die Poesie bis heute bewegt. Ohne schamanische Reste ist sie undenkbar. Ein Ausdrucks- und Darstellungsbedürfnis lässt sich ihr nicht austreiben. Zugleich sucht sie nach ihren sprachmaterialistischen Grundlagen und neigt im Experimentellen zu einer Objekthaftigkeit, die nur sich selbst repräsentiert – nicht das, was man gemeinhin den Sinn von Gedichten nennt. Insofern gilt das Statement, das Jan Wagner in „Text + Kritik“ abgibt, nicht uneingeschränkt: „Ein gelungenes Gedicht ist verblüffend und neuartig, weil es etwas so fasst, so sagt, wie es zuvor nicht gesagt worden ist, doch sollte es dabei so wirken, als sei es das Selbstverständlichste, es auf diese und nur auf diese Weise zu sagen, als habe man bislang nur versäumt, es so zu betrachten – aber immer schon gespürt, dass es so sein müsse. Unprätentiös, aber aus dem Vollen schöpfend. Vielschichtig, aber nicht willkürlich.“

Die Begabung des Dichters besteht mit anderen Worten darin, das Ungewöhnliche im Gewöhnlichen zu sehen, nicht das Gewöhnliche nur ungewöhnlich auszudrücken. Jan Wagner versteht sich darauf meisterhaft. Jenseits davon gibt es auch eine poetische Unverständlichkeit, die sich den Ansprüchen diskursiven Sprechens gar nicht erst beugen will, im Idealfall aber dennoch einer assoziativen Logik gehorcht. Marion Poschmann geht darin nie so weit wie die language poetry von Ulf Stolterfoht. Anschauung, Evokation und sprachliche Selbstreflexion durchdringen einander in den neun, jeweils neunteiligen Zyklen von „Geliehene Landschaften“, in denen sie zwischen Kaliningrad, Shanghai und einem Lichtenberger Kindergarten ein weites Terrain erkundet.

"Wäsche verblüht im Wind", dichtet Marion Poschmann.

Es gibt darin konsequent durchgearbeitete, philosophisch anregende Texte. Doch mindestens so oft übt sich Poschmann in angestrengten Bildbrüchen, die es schwer machen, der Stimme ihrer Gedichte zu vertrauen. Viele Findungen erlauben es, die Regeln, mit der sie vom semantischen Hölzchen aufs Stöckchen kommt, zurückzuverfolgen. Drei nicht grundsätzlich unvereinbare Ebenen kommen einander dabei immer wieder in die Quere. Das erste sind konkrete Szenerien, die Poschmann in durchaus mimetischer Absicht nachzeichnet. Wenn man sie auch nicht für realistisch halten sollte, liefern sie doch stoffliche Details. Das zweite sind ganz aus der Lautlichkeit von Sprache gewonnene Bedeutungseffekte, die einander fortzeugen. Das dritte ist eine fragwürdige Gedanklichkeit.

Nehmen wir gleich „Bastard“, das erste Gedicht des Bandes aus dem Zyklus „Bernsteinpark Kaliningrad“. Die erste Strophe lautet: „Sumpfländereien. Jemand hängt filzene Einlegesohlen / in seinem verglasten Balkon an die Leine. Wolle tropft. / Wäsche verblüht im Wind. Jemand bricht fliederfarbenen Flieder / im Stadtpark und trägt ihn zum Bus. Ein utopisches Spiel. / Die Gewänder des Logos sind abgeworfen und Buspolster jetzt / am besten gekleidet.“ Schon das erste Wort kommt mit Prätention daher.

Marion Poschmann
Marion Poschmann

© dpa

Ländereien steht hier einzig und allein der ungewöhnlichen Kombination wegen, nicht um Grundbesitz anzuzeigen. Dann wird es kurz einprägsam konkret - bis zum fliederfarbenen Flieder. Flieder darf in Gedichten alle möglichen Farben haben, und tatsächlich leben nicht alle Arten vom typischen Lila. Doch fliederfarbener Flieder ist reine Redundanz. Und wie kommt man von da aus zum utopischen Spiel? Weil es um einst kommunistisches Gelände geht? Es wird noch toller: Wer oder was hat die Gewänder des Logos – eines Prinzips ordnender Vernunft – abgeworfen? Trägt er sonst Hose oder Rock? Falls nicht: Gibt es einen nackten Logos? Und wenn statt seiner Bussitze am besten gekleidet sind (die ihre Bezüge garantiert nicht einfach abwerfen), dann im Unterschied zu den Menschen, die sich auf ihnen niederlassen?

Ann Cottens Versepos streift die Grenze zur Slam Poetry

Zweite Strophe: „Logistische Muster, zaristische Stoffe, gewürfelte Welt. / Klotz. Block. Zwei Männer grölen am Parkplatzrand, / die Post verkauft Tütensuppen, Gemüsesamen, das alles / ist wahr. Vertrauensbildende Maßnahmen: Vorgärten werden / mit Bindfäden eingefasst. Das Café Marzipan / gibt es nicht mehr.“ Vom Logos ausgehend landet man umstandslos bei der Logistik, ihr adjektivischer Gebrauch zieht in Verbindung mit der russischen Szenerie allerdings den Sprung zum Zaristischen nach sich. Kann das denn alles wahr sein?

Dann lieber Poschmanns ebenfalls bei Suhrkamp erschienene, ungleich schlüssigere Essays „Mondbetrachtung in mondloser Nacht“ oder das vollends Delirante von Ann Cottens Versepos „Verbannt!“. Reim-dich-oder-ich-fress-dich-Strophen, die ihrem Vorbild, der romantischen Spenser-Strophe, einer Variante der achtzeiligen italienischen Stanze mit neuntem Vers, hinterher holpern und stolpern – oft hart an der Grenze zur Slam Poetry. Im Verbund mit der wild gezackten Story um eine auf eine Insel verbannte Fernsehmoderatorin ist das teils nur noch ein Gewürge – das aber ohne mit der parodistischen Wimper zu zucken: „Jedes Gedicht von mir die Schwere freien Falls“, heißt es einmal. Mehr Sinnverweigerung unter dem Vorwand des Narrativen gab es lange nicht.

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