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"Weltwissen"-Schau: Neue Schau inszeniert 300 Jahre Berliner Wissenschaftsgeschichte

Friedrichs Pferd, Rudis Jacke: Die Schau „Weltwissen“ im Gropius-Bau ist eine Geschichtsausstellung, die Berlin als Zentrum der wissenschaftlichen Welt zeigt.

Klasse, Ordnung, Art. Mit diesen Schlagwörtern der biologischen Systematik lädt das Berliner Naturkundemuseum in seinen wiedereröffneten Ostflügel ein. Es zeigt dort eigentlich nicht mehr als seine übereinandergestapelten Nass-Sammlungen. Und doch geht von den fahlen Fischleibern in den gläsernen Zylindern eine ungeheure Faszination aus – schon durch ihre schiere Masse.

Systematisch und zugleich überbordend: Das ist auch der erste Eindruck, den man von der Ausstellung „Weltwissen“ gewinnt, die jetzt im Berliner Martin-Gropius-Bau eröffnet wurde. Im zentralen Lichthof steht ein 15 Meter hohes und 44 Meter langes Regal aus Stahlrosten, angefüllt mit Objekten der Berliner wissenschaftlichen Sammlungen aus 300 Jahren.

Das bloße Nebeneinander von Exponaten in Vitrinen und Regalen ist in der Museumspräsentation überholt. Und doch zeichnet sich hier der Trend ab, den seriellen Charakter von Sammlungen zum Prinzip wissenschaftlicher Ausstellungen zu machen. Das überdimensionale Regal im Gropius-Bau hat der US-amerikanische Objektkünstler Mark Dion gestaltet, der selbst passionierter Sammler naturkundlicher Objekte ist. Zuletzt zeigte er im Rahmen der Kulturhauptstadt Europas Ruhr.2010 eine ornithologische Sammlung mit angeschlossener Beobachtungsstation.

In Dions Regal stehen: das Skelett von Condé, dem Reitpferd Friedrichs des Großen; die Akademieuhr, nach der die Berliner 130 Jahre lang ihre Taschenuhren stellten; ein 50er-Jahre-Fernseher aus der Medienarchäologie der Humboldt-Universität sowie über 100 weitere „Naturalia, Humania und Artificialia“. Sie symbolisieren eben jene drei Jahrhunderte Wissenschaftsgeschichte. Gleichzeitig stehen sie für die Berliner Institutionen, die in diesem und im kommenden Jahr runde Jubiläen feiern. Die Charité hat ihren Ursprung im 1710 errichteten Pesthaus. Die Vorläuferin der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften erhielt vor 300 Jahren ihr erstes Statut. Die Humboldt-Universität feiert das 200. Gründungsjubiläum der Berliner Universität und die Max-Planck-Gesellschaft wurde 1911 als Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft gegründet.

Eine Institutionengeschichte entrollen Ausstellungsleiter Jochen Hennig und sein Team jedoch nicht. Sie entwickeln entlang von Leitobjekten eine Erzählung, in der sich Wissenschaft, politischer und kultureller Kontext verbinden. Es beginnt am Riesenregal. Die Besucher können Fernrohre auf einzelne Objekte richten und in Hörstücken deren Geschichte erfahren. Wie Wissenschaftler heute mit den Exponaten arbeiten, erklären sie in Interviews, die man an Tischen vor dem Regal nachlesen kann.

„Weltwissen“ ist eine Geschichtsausstellung, die Berlin als Zentrum der wissenschaftlichen Welt zeigt. Zweifellos hatte die Wissenschaftslandschaft der Stadt einst Weltgeltung, und sie hat sie in großen Teilen auch heute wieder. Doch zu Beginn des 18. Jahrhunderts war Berlin nicht mehr als ein Provinzstädtchen mit wissenschaftlichem Ehrgeiz.

Schon Kurfürst Friedrich Wilhelm hatte die Kunstkammer des Hofes zur dinglichen „Enzyklopädie alles Wissbaren“ ausgebaut. 1700 wurde der Astronom Gottfried Kirch an die „Societät der Wissenschaften“ berufen. Die Verbindung brachte der Akademie das Kalenderrecht ein, das lange ihre Haupteinnahmequelle war. Mit der Berliner Klassik und ihren Heroen Wilhelm und Alexander von Humboldt weitete sich auch der Horizont der Wissenschaft, sie vernetzte sich mit der europäischen Geisteswelt. Das Weltwissen, das vor allem Alexander von Humboldt in die Stadt holte, brachte er von seinen Reisen nach Südamerika oder Sibirien mit, die immer auch eine Flucht aus den engen Berliner Verhältnissen waren.

Wie die Stadt um 1900 London und Paris als Wissenschaftsmetropole einholte, wie sich die Professoren im patriotischen Rausch des Ersten Weltkrieges kompromittierten und isolierten, ist durch eine Fülle von Sammlungsstücken und Urkunden belegt und in gut lesbaren Texten beschrieben. In sechs Räumen wird diese Wissenschaftsgeschichte aufgerollt. Herausragende Objekte sind die Lederjacke von Rudi Dutschke, die die Berliner Studentenbewegung symbolisieren soll, und das Autograf von Beethovens 9. Sinfonie, die durch Kriegs- und Nachkriegswirren zwischen den Staatsbibliotheken in West- und Ostberlin zerrissen war.

Einen zweiten, vergleichsweise spielerischen Zugang jenseits der Chronologie bieten die elf Themenräume mit interaktiven Elementen wie abrufbaren Hörspielen und Touchscreens. So ist in einem nachgebauten Labor zu erleben, wie Lise Meitner mit Briefen aus dem schwedischen Exil Otto Hahn bei den Kernspaltungsexperimenten beriet. Zum Thema „Streiten“ gibt es eine Art Arena, in der die Besucher mit roten Alarmknöpfen Streitfälle abrufen können, die die Berliner Wissenschaft bewegten. Dazu gehört ebenso die Frage aus dem 19. Jahrhundert, ob Frauen zur Universität zugelassen werden dürfen, wie der Historikerstreit über die Vergleichbarkeit des Massenmords der Nationalsozialisten mit den stalinistischen Verfolgungen in der Sowjetunion.

Mit insgesamt 1569 Objekten auf mehr als 3200 Quadratmetern Ausstellungsfläche ist „Weltwissen“ vor allem eine Leistungsschau, in der sich Berlin seiner Größe als Wissenschaftsgroßmacht vergewissert. Die Brüche und Verirrungen in dieser Geschichte zeichnen sich früh ab, etwa wenn es um die Leidenschaft für das Vermessen von Schädelformen geht. Wo der Mensch normiert werden soll, wird auch definiert, was angeblich nicht normal ist. Doch solche Erwägungen müssen die Besucher selbst anstellen, die Ausstellungsmacher haben auf Kommentare oder Wertungen verzichtet.

Bis 9. Januar 2011, Mi - Mo 10 - 20 Uhr. Katalog 4 €. Weitere Informationen unter: www.weltwissen-berlin.de

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