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Blick fürs Soziale. Horacia (Charo Santos-Concio) verbündet sich in „The Woman Who Left“ mit den Verlierern der philippinischen Gesellschaft.

© Grandfilm

Neuer Film von Lav Diaz: Das Tier in mir

Der Philippine Lav Diaz ist einer der kompromisslosesten Filmemacher des Weltkinos. In „The Woman Who Left“ erzählt er die Rachegeschichte einer Frau – diesmal nur 4 Stunden lang.

Von Andreas Busche

Aus dem prächtigen Digital-Chiaroscuro, in dem „The Woman Who Left“ silbrig schimmert, schälen sich die Nachtschattengewächse der philippinischen Gesellschaft heraus. Da ist der bucklige Straßenhändler Magbabalot, der Balut verkauft, ein Nationalgericht und Arme-Leute-Essen: angebrütete Hühnereier. Die gekochten Embryos sind das Grundnahrungsmittel der Ausgegrenzten im monochromen Sozialpanorama des Filmemachers Lav Diaz. Zu ihnen gehören auch die Transgender-Prostituierte Hollandia, die sich aus Scham von den Jugendlichen im Viertel misshandeln lässt, und die obdachlose Mameng. Sie sieht überall Dämonen.

Dieses Prekariat lebt im Schatten eines Anwesens, das wie eine gated community von der Bevölkerung abgeschirmt ist. Es gehört dem Gangsterboss Rodrigo Trinidad, der sich nie ohne Bodyguards aus dem Haus wagt. Es ist das Jahr 1997, die Entführung reicher Filipinos gilt als profitables Geschäft, im Radio sprechen Experten von einer sozialen Krise (Mutter Theresa und Prinzessin Diana sind auch gerade gestorben). Die Gesellschaft durchziehe ein tiefer Graben. Seit dem Putsch gegen Marcos stürzt das Land von einem politischen Chaos ins nächste – und mit Rodrigo Duterte kündigt sich bereits der nächste Tyrann an. In dieser hochgradig unsicheren Zeit fungiert die etwa 50-jährige Horacia als Stütze der Gemeinde. Sie ist neu im Viertel, kümmert sich um die Leute und gibt ihnen Arbeit in ihrem kleinen Imbiss. Nachts sitzt sie mit Magbabalot in Sichtweite von Rodrigos Festung. Sie will Rache für 30 Jahre ihres Lebens, die ihr Ex-Freund ihr genommen hat.

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Lav Diaz hat sich in den letzten Jahren als einer der kompromisslosesten Filmemacher im Weltkino profiliert. Bekannt geworden ist er für seine ausufernden Filme, die der Begriff „episch“ nicht ansatzweise erfasst. Vor zwei Jahren musste ihm die Berlinale für seinen achtstündigen Historienfilm „A Lullaby to the Sorrowful Mystery“ einen Festivaltag freiräumen. Sechs Monate später wurde er für „The Woman Who Left“, mit drei Stunden 47 Minuten sein kürzester Film, in Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet. Zwei Filme, zusammen 13 Stunden. In der Obsession der Kritik mit der Länge von Diaz’ Filmen schwingt manchmal ein antiintellektueller Dünkel mit, ein Ressentiment gegen die Manierismen des sogenannten Kunstkinos.

Dabei könnte nichts weniger auf den Guerillafilmer Diaz zutreffen. Ästhetisch gehört er zwar in die lose Gruppe von Regisseuren, die unter dem Begriff „Slow Cinema“ zusammengefasst werden. Aber im Gegensatz zu Hou Hsiao-hsien, Lisandro Alonso oder Carlos Reygadas sind extreme Langeinstellungen mit tiefem Fokus bei Diaz kein Mittel der Immersion, sondern politisch. Es geht um das Verhältnis der Peripherie (des Bildes) zum Zentrum (der Gesellschaft), Diaz verschwindet hinter seinen Arbeiten . Damit steht er einem Essayfilmer wie Adam Curtis oder dem Dokumentaristen Ken Burns näher als dem Erzählkino. Diaz verknüpft Historisches mit Literarischem, Vergangenheit mit Gegenwart, Politisches mit Gesellschaftlichem, den Spiel- mit dem Dokumentarfilm.

Angelehnt an eine Kurzgeschichte von Tolstoi

Insofern ist „The Woman Who Left“, angelehnt an Tolstois Kurzgeschichte „Ein Verbannter“, sein bisher zugänglichster Film – wohl auch der Grund, warum der aufopferungsvoll um die Ränder das Weltkinos bemühte Verleih Grandfilm ihn an diesem Sonntag unter dem Motto „All you need is Lav“ in die Kinos bringt. Diaz erzählt eine (relativ) gradlinige Rachegeschichte. Horacia, gespielt von einer umwerfenden, berührenden, unverwüstliche Charo Santos-Concio, saß 30 Jahre unschuldig im Gefängnis. Als die wahre Täterin, ihre beste Freundin, das Verbrechen gesteht, steht die Frau vor den Trümmern ihres Lebens: Ihr Mann ist längst gestorben, die Tochter hat sich von der Mutter abgewandt, ihr Sohn ist spurlos verschwunden. Das Gefühl der Rache treibt Horacia an, Gutes zu tun. Sie verbündet sich mit den Nachtgestalten.

„The Woman Who Left“ teilt seinen Pessimismus mit Diaz’ Film „Norte – Das Ende der Geschichte“ von 2012, der gerade auf DVD erschien. „Norte“ ist die werktreuere Adaption eines anderen russischen Klassikers, Dostojewskis „Schuld und Sühne“. Der junge Intellektuelle Fabian glaubt den perfekten Mord begangen zu haben, als er eine reiche Pfandleiherin tötet, die die Armut ihrer Mitmenschen ausbeutet. Doch die Tat wird einem mittellosen Familienvater angelastet, der unschuldig ins Gefängnis wandert.

Diagnose einer gescheiterten Gesellschaft

In beiden Filmen sind die Verbrechen nur Ausgangspunkt für genaue Beobachtungen der gesellschaftlichen Fliehkräfte. Es geht bei Diaz nie ums Recht, das ist aufseiten der Reichen, sondern um Moral – und die Kolonialgeschichte seines Landes, die sich bis in die Gegenwart auswirkt. „Ich fühle mich, als hätte ich ein Tier in mir“, beichtet Rodrigo einem Priester. „Es ist hart, Gutes zu tun“, sagt Fabian einmal. Es sind Diagnosen einer gescheiterten Gesellschaft. „The Woman Who Left“ bietet noch am ehesten eine Perspektive. Horacia ist ein Lichtblick zwischen Armut, Verbrechen und Gewalt, ein Opfer der Verhältnisse. Am Ende scheint auch sie den Verstand zu verlieren.

„The Woman Who Left“ läuft in 5 Berliner Kinos. Die DVD von „Norte“ erschien bei Absolut Medien.

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