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Der chilenische Dichter Nicanor Parra am 8. August 2011 in Santiago de Chile.

© Mario Ruiz/dpa

Nicanor Parra gestorben: Die Kunst der Fakten

Antipoet und Volksheld: Der große chilenische Dichter Nicanor Parra ist im Alter von 103 Jahren gestorben.

Als "Paradies für feierliche Trottel" bezeichnete er einst in einem seiner Gedichte die Poesie, was seinen Ruf als sogenannter „Antipoet“ natürlich nur zuträglich war: Nun ist der chilenische Dichter Nicanor Parra im gesegneten Alter von 103 Jahren gestorben. Dies bestätigte der chilenische Kulturminister Ernesto Ottone am Dienstag in Santiago de Chile. Parra zählte zu den bedeutendsten Schriftstellern Chiles. Er wurde mehrfach als Kandidat für den Literaturnobelpreis gehandelt und gewann 2011 den in Madrid verliehenen Cervantes-Preis, die bedeutendste Literaturauszeichnung der spanischsprachigen Welt. Bei den Abstimmungen der Jury setzte er sich seinerzeit unter anderem gegen den Nicaraguaner Ernesto Cardenal und den Mexikaner Fernando Vallejo durch. 2011 veröffentlichte Parra auch sein letztes Werk, „Antiprosas“.

Der umgangssprachliche Wortschatz und Satzbau sowie die Ironie und die Antihelden in seinen Werken ließen Nicanor Parra als "Antipoet“ berühmt werden, immer wieder machte er sich über seine Landsleute lustig, und anders als sein Antipode, aber auch Bewunderer Pablo Neruda gab er sich völlig unsentimental.

Parra veröffentlichte Gedichte - und Gegengedichte

„Chile hat einen der größten Schriftsteller seiner Geschichte und eine einzigartige Stimme der westlichen Kultur verloren“, schrieb Staatschefin Michelle Bachelet auf Twitter nach dem Tod Parras. Tatsächlich ist in Chile die Poesie eine öffentliche Angelegenheit, spätestens seit den Literaturnobelpreisen für Gabriela Mistral 1945 und Pablo Neruda 1971. Auch die vermeintliche Antipoesie von Parra war immer in vieler Munde nicht zuletzt der Menschen auf der Straße in Städten wie La Serena, Puerto Montt, Arica und der Hauptstadt des Landes sowieso. Allerdings blieb Parra zur Zeit Pinochets anders als viele andere chilenische Intellektuelle im Land und arbeitete weiterhin als Dozent für Mathematik und Physik an der Universidad de Chile. Entscheidende Kritik an der Pinochet-Dikatatur fehlt in seinem Werk. Einmal in den siebziger Jahren ließ er freilich eine seiner Figuren sagen: "In Chile werden die Menschenrechte mit Füßen getreten/hier gibt es keine Pressefreiheit/ hier sind die Multimillionäre am Ruder/hier herrscht der Fuchs im Hühnerstall/aber sagt mir bitte mal ein Land/in dem die Menschenrechte was gelten."

Nicanor Parra wurde am 5. September 1914 in San Fabián de Alico geboren, einer kleinen Anden-Ortschaft 400 Kilometer südlich von Santiago de Chile. Er war der Älteste unter fünf Geschwistern, darunter Violeta Parra, die als Musikerin und bildende Künstlerin nicht weniger berühmt war als ihr Bruder. Im Alter von fast 50 Jahren beging sie 1967 Selbstmord. Nicanor Parra studierte Mathematik und Physik in den USA sowie in Oxford. In den USA nahm er Kontakt zur Beat Generation um den Dichter Allen Ginsberg auf, der die Übersetzung von Parras Werken veranlasste. Mit „Poemas y antipoemas“ (Gedichte und Gegengedichte) leitete Parra 1954 eine Revolution der spanischsprachigen Dichtung ein, als bewusstes Gegenmodell zur Metaphernflut in der Prosa und Dichtung Lateinamerikas und Spaniens, zur Sehnsucht nach Perfektion der herkömmlichen Poesie. „Artefactos“ aus dem Jahr 1972, das auf den Sprachtheorien Ludwig Wittgensteins basiert, und die „Ecopoemas“ von 1982 gehören zu Nicanor Parras bekanntesten Werken. (Tsp)

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