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Sprechstunde. Melanie (Melanie Lenz) beim Diätarzt (Joseph Lorenz).

© Berlinale

"Paradies: Hoffnung": Dicke Melanie, gutes Kind

Ambivalente Avancen im Diätcamp: Ulrichs Seidls „Paradies: Hoffnung“ ist der letzte und mit Abstand schwächste Teil seiner Trilogie. Schade, dass die Berlinale sich dafür hergegeben hat.

Überraschungen sehen anders aus. Zu Recht hat die „Süddeutsche Zeitung“, die in diesem Jahr die Rolle des Spielverderbers zu Festivalstart übernahm, auf den Mangel an Weltpremieren im Wettbewerb hingewiesen. Nicht nur, dass die Berlinale – mit dem in China vor einem Monat angelaufenen „The Grandmaster“ – gegen das Prinzip der Großfestivals verstößt, zur Eröffnungsgala den Honoratioren und Sponsoren vielleicht nicht das Beste, doch zumindest stargespicktes Neues zu bieten. Auch die Übernahme von drei bereits im Januar in Sundance gelaufenen Titeln sorgt für Missmut: Über „Before Midnight“, „The Necessary Death of Charlie Countryman“ und „Prince Avalanche“ sind in den überall ausliegenden täglichen Bulletins von „Variety“, „Screen“ und „The Hollywood Reporter“ bereits überwiegend gedämpfte Kritiken erschienen.

Die Liste lässt sich ergänzen. Ebenfalls nicht gerade ursprüngliche Neugier lösen etwa Neuverfilmungen im Segment des gepflegten Historienfilms aus: Diderots „La religieuse“ hat Jacques Rivette bereits 1966 verfilmt, mit Camille Claudel beschäftigte sich Bruno Nuytten – Isabelle Adjani gewann 1989 für ihre Hauptrolle einen Berlinale-Bären. Unter den puren Remakes, die den Aufguss zum ästhetischen Prinzip machen, ist „Prince Avalanche“ das frischeste: Hafsteinn Sigurdssons Vorlage „Either Way“ ist erst zwei Jahre alt. Zur Sorte der Abwicklungsfilme gehört zudem die Trilogie, auf dieser Berlinale mit den jeweiligen Schlussstücken „Before Midnight“ und „Paradies: Hoffnung“ gleich zweimal vertreten.

Ulrich Seidls Berliner „Paradies“-Felgabschwung ist insofern bemerkenswert, als er die künstlerische Stellung der Berlinale im Konzert der drei Großen eindrucksvoll bekräftigt. Aus Seidls in drei Filme parzelliertem Siebenstundenmaterial hat sich Cannes die faszinierende afrikanische Kaufsexstory „Paradies: Liebe“ herausgepickt. Venedig zeigte die konzise katholische Fundamentalismusgeschichte „Paradies: Glaube“. Berlin nimmt das, was übrig bleibt. „Paradies: Hoffnung“ ist, mit seiner Story in einem Diätcamp für Jugendliche, der mit Abstand schwächste Film der Trilogie.

Woran sich das offenbart? Ulrich Seidl ist kein Spielfilm-Erfinder; für seine wechselnd glückenden Experimente zwischen Doku und Fiction benötigt er stets ein sozial eher exotisches Setting, über das der Zuschauer ohnehin gern mehr erfahren will. Hier lässt er sein meist mit Laien und Profischauspielern bestücktes Personal zusammentreffen und webt in die pure Milieustudie einen im besten Fall eindrücklichen fiktionalen Stoff. In „Paradies: Hoffnung“ erzählt er nach seinen Geschichten über die durchaus aufregenden Sommerbeschäftigungen einer sexhungrigen Mutter und einer gottessüchtigen Tante nun von der 13-jährigen Tochter und Nichte. An dem Mädchen aber ist nichts Besonderes, außer: Sie ist ein bisschen dick.

Wie stets in fein kadrierten Einstellungen und mit Lust an der Zentralperspektive weidet sich Seidl nun an den körperlichen Exerzitien, die den Jugendlichen auferlegt sind, mal in der Turnhalle, mal im Freien. Zu erzählen allerdings hat er nahezu nichts – wenn man von der nicht ganz unüblichen Coming-of-Age-Story um Melanie (Melanie Lenz) absieht, die für den Diätarzt (Joseph Lorenz) schwärmt. Ziemlich uneindeutig geht der wesentlich ältere Mann mit diesen Annäherungsversuchen um: Mal sieht es nach Stalking des Mädchens aus, mal scheint er auf ihre Avancen einzugehen. Signifikante Belege allerdings lässt die Erzählung vermissen.

Ansonsten: Bilder aus einem Sommerlager, wie sie jede durchschnittliche Klassenreise sattsam produziert, vom Flaschendrehen bis zum nächtlichen Ausbruch aus vorübergehender Kasernierung. Nur dass die späten Kinder, die ihre irgendwie dahinimprovisierten Dialoge denn doch arg peinigend aufsagen, eben etwas fülliger sind als andere. Womit Ulrich Seidl, der in seinen besten Arbeiten gesellschaftliche Randzustände schmerzhaft erforscht, nicht zum ersten Mal die riskante Schattenseite seines Verfahrens angesteuert hätte: den bloß denunziatorischen Blick der Kamera. Die Berlinale hat sich dafür hergegeben.

9.2., 15 Uhr (Friedrichstadt-Palast) und 23. 15 Uhr (Haus der Berliner Festspiele); die Akademie der Künste (Hanseatenweg) zeigt am 13.2, ab 15 Uhr die Trilogie, Gespräch mit Ulrich Seidl um 22 Uhr.

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