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Aussteiger-Kolonie. Auf dem Monte Verità am Lago Maggiore, vor 100 Jahren. Foto: dpa

© picture alliance / dpa

Kultur: Paradies mit Eisenbahnanschluss

Wo bitte geht’s zur Utopie? Enzensberger, Sloterdijk und Christian Kracht beim Literaturfest auf dem legendären Monte Verità.

Es war eine Eidechsenphobie, die den Schriftsteller Oskar Maria Graf 1913 vom Monte Verità vertriebt. Wie so viele Freigeister von Bakunin bis Mühsam war er – völlig mittellos – zur Aussteigerkolonie im Tessin gepilgert. Doch bald schon geriet der junge Bayer mit den „Vollblutpflanzenfressern“ in Konflikt, wie er die Vegetarier um die Gebrüder Gusto und Karl Gräser nannte. 100 Jahre später will nun das Festival Eventi letterari al Monte Verità (www. Eventiletterari.ch) den Berg, dessen magnetische Strahlung verbürgt ist, als Startrampe hochfliegender Gedanken neu beleben. Zeitgleich zu Europas größter Kamelien-Ausstellung im Park von Locarno erhofft man sich so auch einen früheren Beginn der Tourismussaison.

Unter dem Motto „Utopien und herrliche Obsessionen“ (das Lloyd Douglas’ Roman „Magnificent Obsessions“ entlehnt ist) lud das Komitee Schriftsteller, Philosophen und Künstler aus aller Welt ein, sich vier Tage lang darüber auszutauschen, ob Utopien heutzutage noch möglich sind und wie sie aussehen könnten. Künstlerische Leiter sind Irene Bignardi, Paolo Magri und Joachim Sartorius aus Berlin. Sartorius inszenierte zudem einen vorzüglichen Dada-Abend im Teatro San Materno, in dessen Bauhaus-Atmosphäre man sich in die Zeiten von Hugo Ball und Kurt Schwitters zurückversetzt fühlte.

Unter den Gästen: Claudio Magris aus Triest als Herold der mitteleuropäischen Melancholie, ein recht verstockter Wladimir Sorokin aus Moskau und die herrlich zerstreute Lyrikerin Patrizia Cavalli, deren raffiniert einfache Verse über die Missgeschicke des Lebens und der Liebe italienisches Kulturgut geworden sind; sie tritt mit Band auf. Als deutsche Publikumsmagneten haben sich Sloterdijk und Hans Magnus Enzensberger auf den Berg begeben. Der 83-jährige „liebe Meister“ Enzensberger liest an der einstigen Wiege der Lebensreform-Bewegung aus seinem Buch „Meine Lieblingsflops“, sieht die Sache gewohnt entspannt und lobt die „harmlose, unblutige Utopie“ des Monte Verità. Als produktiver Flop habe sie immerhin den Ausdruckstanz hervorgebracht und die Münchner Räterepublik befördert. Genauer lässt sich die ideelle Achse Schwabing-Tessin übrigens in Ulrike Voswinckels Buch „Liebe und Anarchie“ (Allitera Verlag) nachlesen.

Wer aber würde heute besser auf den Berg der Wahrheit passen als der Schweizer Schriftsteller Christian Kracht? Amüsiert verfolgt er diesen Kongress „fast nur deutschsprachiger Menschen“ und liest im Nebenprogramm Youtopia aus seinem Roman „Imperium“. Darin geht es um eine gescheiterte Kolonie deutscher Kokosnuss-Esser und Nudisten in der Südsee. Der Frage, ob sich an den Mythos des Monte Verità anknüpfen lässt, begegnet Kracht skeptisch: „Der unheilige Geist der Esoterik, der hier weht, ist meines Erachtens überlagert worden von dieser doch sehr abstoßenden Architektur des Tessin. Gleichwohl freue ich mich natürlich, hier zu sein, an diesem historisch gewachsenen Ort, nur nackt kann man nicht sein, es hat, glaube ich, ungefähr zwei Grad.“

Das Hotel im reinen Bauhaus-Stil, das der Bankier Eduard von der Heydt Ende der zwanziger Jahre auf dem Monte Verità errichten ließ, meint Kracht damit nicht. Mit dem Baron hatte der Jetset die idealistischen Pioniere um Ida Hofmann und Henri Oedenkoven endgültig abgelöst. Die strenge Architektur der Neuen Sachlichkeit bildet einen wunderbaren Kontrast zur üppigen Natur inklusive Seeblick. Himmelblau leuchtet der Turm der Utopie durch die noch kahlen Baumkronen – leider sind viele Originalstätten der 1905 gegründeten Vegetabilischen Gesellschaft wegen Renovierung geschlossen.

Der Berner Historiker Andreas Schwab, der seit seinem Buch „Sanatorium der Sehnsucht“ nicht mehr von diesem Ort loskommt, hat in der dunkelgrünen Frischlufthütte Villa Selma eine kleine Ausstellung eingerichtet, die auch dem Kurator Harald Szeemann als Wiederentdecker dieses deutsch-italienischen „Paradieses mit Eisenbahnanschluss“ Tribut zollt. In einem Pavillon verbirgt sich ein wahrer Schatz: Elisar von Kupffers Tempel-Rundgemälde „Klarwerk der Seligen“, in dem androgyne junge Männer sich in einer idealen Landschaft verlustieren. Es ist die Ambivalenz aus Bescheidenheit und Exzentrik, die den Monte Verità bis heute so anziehend macht. Schade, dass Schwab keine Einführung hält: Das hätte dem Festival mehr Richtung und Prägnanz verliehen.

Stattdessen bietet sich dem Publikum ein „Palimpsest der Möglichkeiten“, so der Mailänder Philosoph Salvatore Veca. Wie schon Claudio Magris bei der Eröffnung beklagt er den Mangel an Utopien für Europas Zukunft. Peter Sloterdijk hingegen verweigert sich dem Thema weitgehend und liest lieber einen Aufsatz über die Marquise Pompadour vor. So wie früher im Licht-Luft-Bad, in dem man sich alle 15 Minuten umdrehte, wechseln die Darbietungen und Diskurse. Das hat etwas Beliebiges, aber es handelt sich ja um eine Festival-Premiere.

Als die konkretesten Visionäre erweisen sich am Ende die Architekten. Der Tessiner Mario Botta, der zur Zeit eine Universität nördlich von Peking plant, stellt seinen Kollegen Francis Kéré aus Burkina Faso vor, den Erbauer des von Christoph Schlingensief geplanten Operndorfes. Kéré arbeitet in Berlin und Afrika und führt laut Botta „das utopische Zeichen zu seinem Ursprung zurück, indem er dafür sorgt, dass ein Stück Utopie auch für seine Landsleute realisierbar wird“. Das sei eine schöne Lehre mit ethischem und gesellschaftlichem Mehrwert für uns Europäer. Kéré verarbeitet örtliche Materialien wie Lehm und Sand und bezieht im Sinne von Beuys’ sozialer Plastik die Dorfbewohner in seine Projekte mit ein. Er ist es auch, der nach viertägiger Debatte auf dem Monte Verità die Fenster öffnen lässt und für frische Luft und neue Gedanken sorgt. Katrin Hillgruber

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