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Der US-amerikanische Autor Paul Auster

© dpa

Paul Austers "4321": Wieviel Biografie steckt im Roman?

Das Leben und der Schriftsteller. Wieviel vom Romancier steckt im aktuellen Werk? Und überhaupt: Sind biografische Romane die besseren Fiktionen?

Ich habe es geschafft: Ich habe die 1259 Seiten des neuen Paul-Auster-Romans „4321“ gelesen und ich hatte dabei nie das Gefühl, mich zu langweilen oder gar mich zu fragen, was dieser Roman eigentlich mit mir zu tun hat, mit meinem Leben, mit meinem Ich. Was auch daran liegt, dass Paul Auster eine auktoriale Erzählperspektive für seine vier Helden gewählt hat und diese nicht ganz so nah an mich herankommen. Alle vier heißen sie Ferguson, alle haben sie dieselben Eltern und Großeltern, denselben Körper und dasselbe genetische Material. Ihre Lebensgeschichte jedoch verläuft jeweils ganz anders. Sie sind „identisch, aber verschieden“, sie werden, so stellt es sich heraus und so heißt es am Ende des Buches „als immer unterschiedlichere Charaktere durch Kindheit, Jugend und Mannesalter krabbeln, gehen und galoppieren, jeder auf seinem, separaten Weg“.

Nur habe ich mich, der ich meine, so manches Paul-Auster-Buch zu kennen, manchmal gefragt, durchaus widerwillig, wie viel Auster eigentlich in den vier Fergusons steckt? Also nicht der Auster, der zum Beispiel einen Roman wie „Reisen ins Skriptorium“ geschrieben hat. Dort muss sich ein gewisser Mr. Blank nicht nur mit Austers Figuren herumschlagen. Zum Beispiel liest er das Romanmanuskript eines Autors namens John Trause, einer Figur aus dem Auster-Roman „Nacht des Orakels“, deren Name im übrigen ein Auster-Anagramm ist. Sondern Mr. Blank bekommt zudem den Auftrag, die Geschichte Trauses weiterzuerzählen, die wiederum an eine Geschichte erinnert, die Auster vor einigen Jahren übersetzt hat, Pierre Clastres „Chronicle of the Guayaki Indians“.

Nein, ich meine den Auster, der wie seine Fergusons 1947 in Newark geboren ist, der wie einer der Fergusons Ende der Sechziger an der Columbia University studiert hat, dort wie jener im Wintersemester Homer, Aischylos, Sophokles, Euripides, Aristophanes, Herodot, Thukydides und Platon auf seiner Leseliste stehen hatte. Oder der wie seine Fergusons ebenfalls in Paris war und dort von der Hand in den Mund leben musste, ohne dass ihm das groß was ausgemacht hätte.

Die aktuelle Debatte über die Wertigkeit von "authentischen" Ich-Texten

Ich frage mich das alles deshalb, weil gerade im Literaturbetrieb mal wieder eine kleine Debatte geführt wird, und zwar dieses Mal darüber, ob Memoirs, Autobiografien und radikal authentische Ich-Texte nicht die besseren Romane seien, sie der Fiktion den Rang abgelaufen haben. Denn auch ich habe so viel Knausgård und Melle und Stuckrad- Barre gelesen und finde die so überragend, dass ich diesen Autoren aufs Wort und auf ihr Leben glaube. Wirklich jede einzelne Zigarette zum Beispiel, die Knausgård genau an jenem Tag geraucht hat, als er mit seinem Bruder das erste Mal das Debütalbum von Jesus & Mary Chain hörte: drei Zigaretten bei „Taste of Cindy“, einem Stück von kaum zwei Minuten Länge.

Was bringt es Paul Auster überhaupt vor diesem Hintergrund, einen Roman zu schreiben, der mehr oder weniger offensichtlich autobiografisch grundiert ist? Warum sagt er wie zum Beispiel in seinem „4321“ durchaus zugrunde liegendem „Bericht aus dem Inneren“ nicht einfach „Ich“ oder lässt zumindest seine Fergusons aus der Ich-Perspektive von ihrem Leben erzählen? Warum macht er sich die viele fiktive Mühe? Ganz einfach: Er will zeigen, dass die Zeit, die Geschichte, ein Land mehr macht mit einem Ich als ein Ich die Zeitläufte oder die Geschichte eines Landes bestimmen kann.

Ich finde ja sowieso, dass es oft ganz schön öde ist, Romane auf ihren autobiografischen Gehalt hin zu lesen. Sie werden nicht besser oder schlechter, ihre Figuren oder Ich-Erzähler nicht zuverlässiger. Und ihre Geschichten nicht glaubhafter, weil das vermeintlich wahre Leben sie beglaubigt. Ach, wie schön ist es, dass einer der Fergusons am Ende einen Roman mit dem Titel „4321“ zu schreiben beginnt und die „Passagen, die zu schreiben ihm am schwersten fiel, waren diejenigen, die vom Tod seiner geliebten Jungen erzählten.“ Nur gut, dass ich nicht glaube, dass dieser Ferguson und Paul Auster ein und dieselbe Person sind.

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