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Hier bin ich Kind. Ostereiersuche im Weimarer Park vor Goethes Gartenhaus.

© dpa

Peter Wawerzineks Ostergeschichten: Das blaue Band

Kinderheime, Kuckuckseier und andere Katastrophen: Wir mir der Osterglaube verloren ging.

Ach Frühling, sage ich mir jedes Jahr wieder, wie durchwehst du mich. Es passiert, dass ich die ersten warmen Sonnenstrahlen aufsauge, die Arme ausbreite und, breitbeinig im Zentrum meiner Person ruhend, laut und vernehmlich rufe: Hier bin ich Mensch ...

Nur, ich gehe nicht mehr mit Ostergefühlen durchs Leben. Das Glücksgefühl um Ostern herum sprudelt nicht mehr so naiv und unbenommen aus mir heraus. Ich kann nicht mehr so frohgemut und hoffnungstoll wie in früheren Jahren sein, als der Frühling mir Kraft schenkte, Dinge anzugehen, die augenblicklich in Taten umgesetzt werden wollten. Immer weniger verfalle ich einstiger Aufbruchsosterstimmung. Und von Jahr zu Jahr wächst die Befürchtung, dass der Mensch als einzelnes Wesen gut und edel ist, die Menschheit sich aber zugrunde richten wird.

In meinem ersten Kinderheim fand ich das erste bunte Ei zwischen Hölzern am Boden eines Stapels. Im zweiten Kinderheim, meinem Schulkinderheim, suchten wir auf ein Zeichen hin kleine Pappkörbe, die waren mit Ostereiern, Schokolade und Bonbons gefüllt. Abgezählte Süßigkeiten, grüne Graswolle, gelbe Pappen. Einzig die in der Heimküche hartgekochten Eier machten den Unterschied aus. Hühnereier, die wir in der Bastelstunde gefärbt hatten. Blau, grün, rot, gelb, violett. Die Körbe waren nie sonderlich gut versteckt, eher lieblos über das Suchgelände verteilt.

Auf der Suche nach dem blauen Ei

Ich fand das erste Körbchen flink. Es ging mir viel zu einfach und zu schnell. Ich stellte es wieder ab. Ich wollte herausgefordert sein. Also stieß ich in Ecken, Winkel, Nischen vor, wo ich die Körbchen mit deutlich mehr Raffinesse und Versteckspiellaune verstecken würde.

Ich weiß noch, dass mich die Idee ritt, ein blaues Hartei in meinem Osterkorb liegen zu haben. Blau ist meine Lieblingsfarbe. Der Vogel, den ich als Kind liebte, weil er mit mir sprach, war die kleine Blaumeise. Blau ist der Himmel über dem Meer. Meine Freundin trug blaue Schuhe, wie sie Elvis Presley besang, der allen Mädchen der Welt alles erlaubte, nur nicht, beim Tanzen auf seine blauen Superschuhe zu trampeln.

Da ist weit und breit kein blaues Ei zu entdecken. Ich will es aber haben, das vielleicht einzige blaue Osterei, das es geben muss, in einem besonders gut versteckten Korb. Ich schlüpfe durch einen Spalt im Zaun zum Heimgelände hinaus. Vergebliches Mühen. Ich kehre um. Bin am Ende gar das einzige Kind ohne Körbchen zu Ostern.

Und wie ich meine fixe Idee mit dem blauen Hartei eben verfluche, blinzelt mir vom Kohlehaufen her etwas Blaues zu. Ich finde ein Körbchen. Es ist von einem Stiefeltritt in den Kohlestaub hineingetreten worden. Ich grabe es mit bloßen Händen vorsichtig aus. Rette die süßen, bunten Zuckereier, die mit Staub beklebt sind. Ich widme mich ganz dem blaue Ei, das mit dem Korb zertreten worden ist. Ein Quetschei im Staub. Mehr ist da nicht. Ich berge es. Tränen stehen mir in meinen Augen. Tränen des Glücks. Ich esse vom Eiermatsch. Sand knirscht zwischen meinen Zähnen. Tränen fließen. Ich habe je nie mehr geweint. Ahnungsvoll, beglückt und wütend. Und habe an diesem Ostertag meinen Glauben an Ostern verloren.

Vom Glauben abgefallen

Bei meinen Adoptiveltern, diesem dreihundertprozentigen prosozialistischen Lehrerehepaar, galt Ostern wie Weihnachten als kirchliche, also klassenfeindliche Aktion. Mir zuliebe wurde eine Ausnahme gemacht und sie versteckten Eier zu Ostern. In der Wohnung. Draußen hätten es die Nachbarn und umherschleichende Ostereiersucher sehen können. Draußen wäre es Verrat an der guten Sache geworden, dem Kommunismus. Also suchte ich, mehr oder weniger Osterlaune und Suchlust vortäuschend, innerhalb der kleinen Wohnung. Ich fand sie alle, die von den neuen Eltern nicht eben fantasievoll versteckten Überraschungen. Unterm Kachelofen. Hinterm Fernseher. In der Lampenschale. Irgendwann sagte die Adoptivmutter: Alles gefunden. Glückwunsch, Junge. Ostern war als lästiger Familienakt abgewickelt.

Im Jahr darauf fragten sie mich, ob ich Ostern noch einmal suchen wollte. Ich verneinte. Sie waren sichtlich erfreut und erleichtert. Das überübernächste Jahr lebte ich schon im Internat. Wir fuhren Ostern mit der Kutsche durch die Umgebung von Bad Doberan. Durchs schöne Quelltal. Wir sangen laute Lieder und tranken während des Ausflugs heimlich Eierlikör. Wir wurden betrunken im Internat abgeliefert und hart bestraft. Und mein Glaube an Ostern kehrte ein bisschen wieder zurück.

Irgendwie wurde Ostern dann lange nicht mehr begangen. Das änderte sich erst wieder, als ich Vater wurde und ich endlich selber Eier verstecken konnte. Ich versteckte sie, wie Eier versteckt gehören. So gut, dass ich selbst nicht mehr wusste, wo. Das Kind greinte. Meine Frau war böse auf mich und übernahm die Sache in den nächsten Jahren, schloss mich von allem aus. Das Kind war frohgemut. Mein Glaube an Ostern verlor sich wieder. Die Ehe wurde zu Ostern geschieden.

Goethe’scher Osterspaziergang

Bösartige Triebe schießen allerorts ins Kraut. Populismus heißt das Kuckucksei im Osternest. Ich wollte, ich könnte den Frühling stoppen, das Weltgeschehen in seinem Istzustand einfrieren. Die auf uns zukommende Katastrophe verhindern. Stattdessen singe ich enttäuscht von Mörikes Frühling im Gedicht und seinem blauen Band. Der Osterhase in mir sieht dies Blau als das Blau des europäischen Banners, das da durch die Lüfte flattert. Weit sein sollte der Himmel. Nun aber löst sich aus ihm der erste goldene Stern mit Namen England. Brennt das britische Guckloch ins Fahnentuch. Aus den finstersten Geschichtsecken kriechen sie hervor, mit ihrem Schauer körnigen Eises über die grünende Flur, mit ihren Reden und Sprüchen fürs Volk.

Mein armes Osterlied, mein Goethe’scher Osterspaziergang: „Jeder sonnt sich heute so gern, sie feiern die Auferstehung des Herrn“. Kann sein, dass die Menschheit untergehen wird, wenn sie sich nicht bald besinnt. Weil sie nie wirklich auferstanden ist, sondern nur technisch besser ausgestattet wurde. Glückssucher in brüchigen Kähnen und überladenen Gummibooten landen an, ihr Heil bei uns zu suchen. Trauer ist in mir mit der letzten Zeile des Osterspaziergangsliedes: „Ich höre schon des Dorfs Getümmel / Hier ist des Volkes wahrer Himmel / Zufrieden jauchzet Groß und Klein: /Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein!“

Peter Wawerzinek, geboren 1954 in Rostock, lebt als Schriftsteller in Berlin. Bei Galiani erschienen seine Romane „Rabenliebe“ und „Schluckspecht“, im Transit Verlag ist dieses Jahr „Bin ein Schreiberling“ herausgekommen. 2010 gewann er in Klagenfurt den Ingeborg-Bachmann-Preis, 2016 war er Stadtschreiber in Dresden.

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