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Graffito

© Uwe Steinert

Poesiefestival: Frische Verse aus der Dose

Gedichte an der Kaufhauswand: In Lichtenberg kommen Graffitikünstler und Lyriker zusammen. Die Anwohner schauten den Sprayern vom Balkon aus bei der Arbeit zu.

Klappt doch, der Dialog zwischen Dichtung und Plattenbaukiez: Vor einer graffitiverzierten Wand trägt der Portugiese Ricardo Domeneck sein Gedicht „Immerzu Exil“ vor, das mit den ernsten Worten endet: „Wenn Sicherheit und Bürgersein unvorstellbar geworden sind und uns nichts bleibt als ein Zustand.“ Im Publikum stubst ein Trinker seinen Kollegen an und kommentiert: „Kürzen. Kürzen. Viel zu lang. Der muss noch viel üben.“

Auf dem Lichtenberger Anton-Saefkow-Platz brachte das Poesiefestival am Wochenende hohe Lyrik und Graffiti- Kunst zusammen, brasilianischen Street Art-Geist und Berliner Kiezleben. 19 Dichterinnen und Dichter, darunter große Namen wie Monika Rinck und Jan Wagner, hatten Texte zur Verfügung gestellt, die mit der Sprühdose an die Wände des leer stehenden Kaufhauses auf der Platzmitte geschrieben worden waren. Auf je 13 Metern setzten Graffitikünstler direkt daneben ihre bildnerische Interpretation, „Gedichte aus der Sprühdose“, wie es die Veranstalter nannten. Am letzten Tag des Festivals mit seinem Schwerpunkt „Die Welt auf Portugiesisch“ wurde Vernissage gefeiert, die Dichter trugen ihre Texte vor, und Jury und Publikum kürten die besten künstlerischen Umsetzungen.

Bas Böttcher mag, was der Sprayer Tokyoe aus seinem Gedicht „Freiheit im Quadrat“ gemacht hat: Origami-Kraniche. „Die sind ja auch aus quadratischem Papier gefaltet. Es ist schön, wenn ein Text auf diese Art ein Eigenleben bekommt.“

Die Idee für das Projekt stammt aus Rio de Janeiro. Thomas Wohlfahrt, der Direktor der Literaturwerkstatt, hatte dort auf seiner Vorbereitungsreise die brasilianischen Dichter Renato Rezende und Claudio Roquette-Pinto kennen gelernt. Sie hatten vor zwei Jahren ein ähnliches Projekt erarbeitet, in dem ihre akademisch geprägte Kunst auf Street Art traf. Sprayer, DJs und Videokünstler aus den Favelas übersetzten Gedichte in ihre Sprache. Die Resonanz war überwältigend. Auch Wohlfahrt war beeindruckt. „Ich fand die Idee sehr interessant, mit Dichtung so umzugehen, dass man die Leute da abholt wo sie wohnen und sie einfach damit konfrontiert.“

Es war ein glücklicher Zufall, dass man in Lichtenberg gerade selbst nach kreativen Projekten suchte, die das leere, kastenförmige Gebäude auf der Mitte des Platzes verschönern könnten. Das Wohngebiet Fennpfuhl entstand Anfang der Siebziger als erste Großbausiedlung der DDR. Wer hier, von Mitte kommend, aus der Tram steigt, fühlt sich in einen Albtraum sozialistischer Wohnvorstellungen versetzt. Balkon über Balkon ragen die Wohnzellen in den Himmel, der Platz selbst drängt eher zum Überqueren als zum Verweilen. „Die Wände des Kaufhofs waren immer verschmiert und hässlich“, erzählt Claudia Schulz vom Bezirksamt. Von diesem Problem haben die Künstler die Lichtenberg nun dauerhaft befreit.

„Da könnt ihr was lernen für später“, scherzt eine Mutter mit ihren Kindern über Umsetzung von Domenecks Exil-Gedicht durch den Berliner Sprayer Saimen: Sie illustriert, wie man sich aus eigener Kraft aus Handschellen befreit. Schon seit Freitag hatten die Anwohner von den Balkonen ihrer Hochhauswohnungen gespannt die Sprüharbeiten verfolgt. Einige mischten sich sogar selbst in den kreativen Prozess ein und brachten ihre mit dem Tintenstrahler ausgedruckten Fotos vorbei.

Leider treibt schon in der ersten halben Stunde ein Regenschauer die Gäste vom Platz, in die Essenszelte und unter das Vordach des Kaufhauses. Claudia Roquette- Pinto und Renato Rezende, die mit drei weiteren Künstlern aus Rio angereist sind, sind dennoch guter Laune. Beide sind in ihrer Heimat für ihre Lyrikbände mehrfach ausgezeichnet worden. Trotzdem ist ihnen mulmig: „Die zeitgenössische Lyrik ist in einer Krise“, berichtet Rezende. „Wir sind zwar renommierte Dichter, aber wir werden nicht gelesen. Es ist als würden wir nicht existieren.“ Poesie findet für junge Brasilianer eben auf der Straße statt – in Street Art, im HipHop, im pumpenden Baile Funk. „Die akademische Lyrik verliert an Lebendigkeit, während die Street Art Geschwindigkeit ausstrahlt, Lebensnähe“, sagt Roquette- Pinto. In Rio, wo die Kluft zwischen Arm und Reich größer ist, habe Graffiti zudem eine andere Funktion als in Deutschland. „Es geht um Selbstbehauptung, es ist eine Frage von Überleben“.

Durch das Graffiti-Gedicht-Projekt fanden Künstler Anerkennung auch außerhalb der Favelas. In der ersten Graffitigalerie Rios verkaufen sie inzwischen ihre Werke auf Leinwand. Und die Dichter fanden neue Impulse. „Was macht ein Gedicht aus?“, fragt Rezende. „Was sind seine Grenzen? Das untersuchen wir. Wenn das Gedicht in gedruckter Form ausstirbt, ist das nicht das Ende.“

Wer sagt schließlich, dass Dichtung in Büchern stehen muss? Das tat sie die kürzeste Zeit in ihren 5000 Jahren Geschichte. „Klang und Rhythmus waren früher Erinnerungstechniken“, erklärt Thomas Wohlfahrt. „Erst mit dem Buchdruck wurden sie zu einer rein ästhetischen Funktion, die Dichtung rückte vom Marktplatz ins Wohnzimmer. Was die sie damit an Dichte, an Textur gewonnen hat, hat sie im Sozialen verloren.“ Dass es in den letzten Jahren ein wachsendes Interesse an Dichtung gibt, sei, glaubt Wohlfahrt, gerade dem Einfluss der Straße zu verdanken, „dem HipHop mit der Live-Performance und dem starken Rhythmus“.

Die Vorträge der Dichter zeigen allerdings, dass sie sich selbst kaum als Performer sehen, mit Ausnahme des Bühnenpoeten Bas Böttcher. Der junge Suhrkamp-Star Ann Cotten („Fremdwörterbuchsonette“), grauer Parka, versteckt hinter eine Oma-Sonnenbrille, einen Stiefel mit Klebeband geflickt, untergräbt jeden Authentizitätskult, indem sie ihr Gedicht so verschüchtert singt wie ein Kindergartenkind. „Hat nicht ganz geklappt“, erklärt sie hinterher.

Auch Claudia Roquette-Pinto und Renato Rezende strahlen nicht direkt Street Credibility aus, als sie in ihrer Abschluss-Performance über sanften Beats von DJ Machintal ihre Texte lesen. Es ist eher ein träumerischer Auftritt. Der brasilianische Graffitistar Bragga zaubert daneben schwarze Vögel auf die Wand, und vor der Bühne führt ein Anwohner um die 60 einen Ausdruckstanz auf. Ein schönes Bild. Wahrlich, die Grenzen zwischen den Künsten sind fließend.

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