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Berthold Beitz 1988 in einem Flugzeug nach Moskau.

© IMAGO

Politisches Buch: Der Engel, der in die Hölle kam

Joachim Käppner hat eine bewegende Biografie über Berthold Beitz geschrieben. Der damalige Manager der Karpathen Öl AG und spätere Großindustrielle hat im dritten Reich schätzungsweise mehreren hundert Juden das Leben gerettet.

Szenen wie aus der Apokalypse. August 1942 in Boryslaw, einer Stadt in der Ukraine. Die SS treibt Menschen zusammen, am Bahnhof stehen Viehwaggons für die Fahrt in den Tod bereit. Türen werden aufgebrochen, Keller und Dachböden nach Verstecken untersucht, Alte erschossen, Kinder barfuß und unter Prügeln durch die Straßen gejagt. Dann fährt ein Mercedes vor. Ein Mann in Hut und Mantel steigt aus und eilt, Schüssen, Schreien und dem Gebell der Wachhunde trotzend, durch die Menge zum Bahnsteig. Er läuft an den Waggons entlang und ruft sehr laut Namen. Arbeiter der „Karpathen-Öl“ sollen sich melden. Die Menschen antworten: „Herr Direktor, nehmen Sie mich!“ – „Ich arbeite bei Ihnen.“ Dem Mann gelingt es tatsächlich, viele Juden herauszuholen aus dem Zug, der sie ins Vernichtungslager Belzec fahren sollte. „Er ist ganz ruhig geblieben, wie ein Gentleman unter diesen schrecklichen Männern“, erzählt ein Zeitzeuge. Ein anderer Überlebender spricht von einem „Engel“, der „plötzlich in die Hölle kam“.

Der Engel heißt Berthold Beitz. Als Unternehmer prägte er die bundesdeutsche Nachkriegszeit, doch über seine Rettungstaten im Zweiten Weltkrieg hat er lange geschwiegen. Die Deutschen der Wiederaufbaujahre wollten nichts wissen von geretteten Juden, das hätte sie an die eigene Schuld erinnert. Doch seit 1990 ist Beitz einer der „Gerechten unter den Völkern“, an die die israelische Gedenkstätte Yad Vashem erinnert, er wurde mit dem Leo-Baeck-Preis und der Moses-Mendelssohn-Medaille ausgezeichnet. Sein Biograf Joachim Käppner schätzt, dass „mehrere hundert Menschen“ dank Beitz überlebt haben. Allerdings lässt sich ihre Zahl nur schwer schätzen, da viele Juden, die er 1942 etwa vor der Deportation bewahrte, später doch noch ermordet wurden.

Als Manager der späteren „Karpathen Öl AG“ war er 1941 in das von der Wehrmacht besetzte Ostgalizien gekommen, mit 27 Jahren verantwortlich für 13 000 Arbeiter und kriegswichtigen Treibstoffnachschub. Das Schreckensregime, das die Deutschen dort errichteten, ist für ihn ein Schock: „Alle Beteiligten verhielten sich so, als sei es ganz normal, am helllichten Tag eine Jüdin zu erschießen, während ihr kleines Kind neben ihr stand.“ Beitz richtet ein Firmenlager für jüdische Arbeiter und ihre Angehörigen ein, das – so Käppner – zu einer „Fluchtinsel“ wird. Mit Ehefrau Else versteckt er jüdische Kinder in seiner Villa. Doch seine Macht hat Grenzen. Im März 1944 wird der Feldwebel der Reserve zum Fronteinsatz einberufen, den Juden rät er: „Haut ab, lauft in die Wälder.“

Beitz ist eine Jahrhundertfigur, sein Leben trägt abenteuerliche Züge. Käppner, Redakteur der „Süddeutschen Zeitung“, widmet ihm eine umfassende Biografie, die mit Lob nicht geizt. Unangepasstheit, das ist der Charakterzug, in dem Käppner den moralischen Motor für Beitz’ erkennt: „Er ist innerlich frei genug, zu handeln und zu widerstehen, diese Freiheit ist die Quelle seiner Kraft.“ Die Unbekümmertheit rührt aus der Kindheit. 1913 in Pommern geboren, wächst Beitz in einfachen, aber liebevollen Verhältnissen auf, absolviert eine Banklehre in Stralsund, will nach China oder Amerika und landet stattdessen bei der Erdölgesellschaft Shell in Hamburg.

Er lernt, Autorität auszustrahlen, das wird ihm in Boryslaw helfen. Dort tritt er gegenüber den SS-Mördern nicht unterwürfig auf, sondern forsch und drohend, notfalls an höherer Stelle zu intervenieren. Beitz behauptet, mit seinem Einsatz für die jüdischen Arbeitskräfte im Auftrag des Oberkommandos des Heeres zu handeln. Ein Bluff. Aber auch der Zufall hilft. Als er denunziert wird, „propolnisch“ eingestellt zu sein und Juden bei der Flucht geholfen zu haben, bekommt er eine Vorladung von der Gestapo in Breslau. Der Gestapo-Mann, der ihn verhört, entpuppt sich als alter Jugendfreund aus Greifswald. Nach drei Tagen in einer Zelle ist Beitz wieder frei.

„Endlich mal ein unverkrampfter Deutscher“, staunt John F. Kennedy 1963 bei seinem Deutschlandbesuch über Beitz. Der Aufstieg des Managers verläuft rasant, als Generaldirektor der Iduna-Germania-Versicherung gehört er zum Hamburger Edelpatriziertum. 1952 trifft er im Atelier eines befreundeten Bildhauers Alfried Krupp von Bohlen und Halbach. Der Industrielle, verurteilt im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess, hat sechs Jahre Haft hinter sich, nun will er seinen Konzern wiederaufbauen. Er holt den unbelasteten Beitz als Generalbevollmächtigten nach Essen. Beitz hilft, die einstige Waffenschmiede Krupp zu „entflechten“, wie es die Alliierten verlangen. Und er muss gegen die Direktoren des Konzerns antreten, die von ihrer Macht nichts abgeben wollen.

Wie Käppner diesen Kampf schildert, gehört zu den stärksten Passagen des Buches. Die Direktoren sind alte Herren, teilweise mit Schmissen im Gesicht, sie intrigieren, versuchen, Beitz den Zugriff auf die Finanzen zu verweigern, nennen ihn verächtlich „den Amerikaner“. Beitz lässt demonstrativ den Paternoster in der Unternehmenszentrale schneller laufen, deckt Korruptionsfälle auf und siegt, weil er den Rückhalt von Alfried Krupp hat. „Man muss die Macht zu gebrauchen wissen“, weiß er. Den Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) bringt er gegen sich auf, der einflussreiche Banker Hermann Josef Abs und Bundeskanzler Konrad Adenauer werden zu Gegnern. Als Beitz zum Aufbau von Wirtschaftsbeziehungen nach Warschau und Moskau fährt, äußert Adenauer „Zweifel an der nationalen Zuverlässigkeit“ des Managers.

Krupp ist ein nationaler Mythos, der Konzern erinnert in den 50er Jahren an ein zerfallenes Königreich. Der Regisseur Helmut Käutner versetzt in seinem – von Käppner unerwähnten – Film „Der Rest ist Schweigen“ das Hamlet-Drama in ein Villa-Hügel-artiges Industriellenrefugium. Krupp hat einen „traurigen Prinzen“, Arndt von Bohlen und Halbach. Das einzige Kind von Alfried ist ein Exzentriker und eine Lieblingsfigur der Boulevardzeitungen. Er bricht das Studium ab, verprasst sein Einkommen und passt in der Nachkriegszeit schon deshalb nicht in die Männerwelt der Stahlkocher und Ingenieure, weil er schwul ist. BB wird für ihn zu „Vater zwei“ und bringt ihn 1966 dazu, gegen eine jährliche Apanage von zwei Millionen Mark auf sein Erbe zu verzichten. Ein Stiftungsmodell rettet Krupp vor dem Ausverkauf.

Als Testamentsvollstrecker und Stiftungsvorsitzender ist Beitz für Jahrzehnte die bestimmende Kraft im Konzern. Er steht für einen Kapitalismus mit menschlichem Antlitz, setzt sich für Arbeitnehmerrechte und Mitbestimmung ein. Der „Liebling der Götter“ (Abs) übersteht alle Krisen. Als Krupp in der Stahlkrise 1966 Verbindlichkeiten von über drei Milliarden Mark angehäuft hat, holt Beitz einen Sanierer. Er fädelt 1976 eine 25 Prozent-Beteiligung der Perser an der Fried. Krupp GmbH ein und wird von Amnesty International als Schah-Freund kritisiert. Er beschließt 1987 zusammen mit Krupp-Stahlchef Gerhard Cromme die Schließung des Stahlwerks in Duisburg-Rheinhausen und stellt sich wütenden Arbeitern, die die Villa Hügel in Essen stürmen. Einer der wenigen Beitz-Kritiker in dem Buch ist ein Vorarbeiter, der damals einen Hungerstreik begann und heute sagt: „Beitz war der Strippenzieher, Cromme der Killer.“

Beitz geht auf in seiner Arbeit, er kann nicht loslassen. Noch heute, mit 97 Jahren, lässt er sich jeden Morgen zum Gästehaus der Villa Hügel hochfahren, dem Sitz der Krupp-Stiftung. Helmut Schmidt spricht in seinem Vorwort von Beitz’ „innerem Kompass“, der ihm „soziale Verantwortung auferlegt“ habe. Was dieses Leben lehrt: Kurs zu halten, auch in Zeiten der Bedrängnis und Gefahr.

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