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Mein Freund, der Baum. Radiohead mit Thom Yorke (links).

© Beggars Group

Radiohead: Der Geisterchor im Märchenwald

Überraschungscoup 2.0: Radiohead veröffentlichen ihr Album "King of the Limbs" auf ihrer Website. Es markiert eine erneute Abkehr der Band vom Song-orientierten Format.

Sie haben es wieder getan. Und es funktioniert auch beim zweiten Mal: Radiohead haben ihr neues Album „The King of Limbs“ ohne jegliches Werbebrimborium auf ihrer Bandwebsite veröffentlicht – als Download. Die CD- und Vinylausgaben kommen erst Ende März in die Läden. Im Netz hat dieser Überraschungscoup innerhalb weniger Tage ein immenses Echo ausgelöst. Auf über zwölf Millionen Seiten finden sich Einträge zu dem Album. Es gibt intensive Fandiskussionen, zahlreiche Kritiken und Blogeinträge, die zugleich beweisen, dass Radiohead wirklich keine Plattenfirma mehr brauchen.

Ihre erste Digital-Offensive vor vier Jahren hatte noch einen Neuigkeitsbonus. Zudem konnten die Hörer den Preis für „In Rainbows“ damals selbst festlegen – auch ein Gratis-Download war möglich. Das geht nun nicht mehr: Die acht neuen Titel kosten als MP3-Files sieben Euro und in der höherwertigen WAV-Version elf Euro. Tonträger-Fans können (ab 36 Euro) eine Luxusedition vorbestellen, die aus zwei 10-Inch-Vinylscheiben, einer CD, einer digitalen Albumversion sowie einem 625- teiligen Artwork plus biologisch abbaubarem Plastikrahmen besteht.

Letzteres wird die uralte Eiche freuen, nach der das Quintett aus Oxford sein achtes Album benannt hat. Der „König der Äste“ steht im südenglischen Savernake Forest, in dessen Nähe die Band das Vorgängeralbum aufgenommen hat. Und sehr verästelt sind auch die Stücke darauf. Geradezu programmatisch wirkt der Auftakt mit dem fünfminütigen „Bloom“, das über einen Stolperrhythmus allerlei Knacksen, Dräuen und Heulen legt. Ein Pianoloop wird nach wenigen Takten auf zwei Töne reduziert, der Bass schiebt sich mit triphop-hafter Lässigkeit als beruhigende Kraft darunter.

Eine Gitarre darf nicht mitmachen. Gleich drei sind dafür beim folgenden „Morning Mr. Magpie“ dabei. Zwei führen mit dem Becken eine Morsezeichen-Diskussion, die dritte wirft gelegentlich etwas ein oder doppelt den Gesang von Thom Yorke, der hier erstmals klar in den Vordergrund tritt. Sein klagender Tenor – ein Markenzeichen der Gruppe – wird insgesamt viel subtiler in Szene gesetzt als früher. Mal scheint er mit den Soundschichten zu verschmelzen. Später kommen immer wieder gesampelte und geloopte Schnipsel seines Gesangs zum Einsatz. Besonders gelungen ist das in „Give up the Ghost“, bei dem sich Yorke von einer Akustikgitarre und mehreren Spuren seines eigenen Gesangs begleiten lässt. Diese hallig verzerrten Stimmen beschwören schließlich eine Art Gespenster-Chor herauf – ein Stück, das auch auf eine Gorillaz-Platte passen würde.

„The King of Limbs“ markiert eine erneute Abkehr der Band vom Song-orientierten Format, das sowohl ihr Frühwerk als auch die letzten beiden Alben „In Rainbows“ (2007) und „Hail to the Thief“ (2003) dominierte. Die nächsten Verwandten sind eindeutig „Kid A“ und dessen Schwesteralbum „Amnesiac“. Diese 2000 und 2001 veröffentlichten Platten führten Radiohead endgültig herunter von ihrem Thron der Indie-Rock-Retter und hinein ins Land der Experimente und Electronica. Viele Fans ihres Artrock- Meisterwerks „OK Computer“ (1997) waren damals geschockt, doch für die fünf ehemaligen Schulfreunde war es ein Befreiungsschlag. Dass sie eben dort wieder anknüpfen, sagt einiges über Radioheads ungebrochenen Willen zur Erneuerung aus. Denn so wie sie sich vor einem Jahrzehnt auf die spannenderen Seiten von Drum’n’Bass und Techno bezogen, haben sie sich jetzt hörbar mit jüngeren Trends wie Dubstep und Post-Dubstep befasst. Diese düstere, aus London stammende Clubmusik arbeitet mit verschobenen, stark synkopierten Rhythmen und extrem tiefen Bässen. Am deutlichsten ist dieser Einfluss bei „Feral“, auf dem Yorkes Stimme vollends zum Häcksel-Material geworden ist. Sie fügt sich in das hektische Getackere und Gebrumme der Umgebung – und scheint darin sehr gut aufgehoben.

Der abstrakte, trackhafte Sound von „The King of Limbs“ erinnert von Ferne auch an „Cosmogramma“, das hypernervöse Klickidiklickklack-Monster, mit dem der amerikanische HipHop-Produzent Flying Lotus letztes Jahr sein Publikum überforderte. Thom Yorke war als Gastsänger dabei. Vielleicht ist es kein Zufall, dass eines der neuen Radiohead- Lieder „Lotus Flower“ heißt. „I will sink and I will disappear/ I will slip into the groove and cut me up and cut me up“. Sich dem Groove hingeben, zerschnitten werden und Verschwinden – so strahlend wie Yorke es singt, klingt es nach einer seligmachenden Angelegenheit.

„The King of Limbs“ unter: www.radiohead.com, oder ab 25. 3. bei XL Recordings

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