zum Hauptinhalt
Meisterin der Alltagsgroteske. Lydia Davis. Foto: Theo Cote/Droschl

© Theo Cote/Droschl

Porträt Lydia Davis: Welt durch die Lupe

Wirklichkeit in drei Zeilen: Eine Begegnung mit der Man-Booker-Preisträgerin Lydia Davis.

„Fische sind ein moralisches Problem“, sagt Lydia Davis. Sie sitzt auf den Stufen der presbyterianischen Kirche an der Hauptstraße von Hudson, einem manikürten Städtchen zweieinhalb Zugstunden nördlich von New York City. Über Fische hat die 67-Jährige viel nachgedacht. Über ihre Glubschaugen und das Auf und Zu ihres Mundes. Darüber, dass manche Leute kein Fleisch essen, aber Fisch mit dem Argument, Fische würden keinen Schmerz spüren: „Das ist natürlich Unsinn.“ Und darüber, dass, wer wie sie selber Fisch isst, dies eigentlich nur noch mithilfe eines Führers tun kann, der über die Arten informiert, die nicht durch Überfischung gefährdet sind.

Wie oft Fische in ihren Geschichten auftauchen, ist Lydia Davis allerdings erst vor kurzem aufgefallen. Ihr neues Buch enthält zum Beispiel das folgende Stück mit dem Titel „Alte Frau, alter Fisch“: „Der Fisch, der mir den ganzen Nachmittag im Magen gelegen hat, war, als ich ihn zubereitete, so alt, dass es mich nicht zu wundern braucht, dass mir unwohl ist – eine alte Frau, die einen alten Fisch verdaut.“

„Kanns nicht und wills nicht“ ist Lydia Davis’ siebter Band mit Erzählungen und wurde 2013 mit dem Internationalen Man-Booker-Preis ausgezeichnet. 2009 erschienen in den USA die „Collected Stories of Lydia Davis“. Diese „Gesammelten Geschichten“ weckten das schlafende Publikum. Bis dahin hatte Lydia Davis als „stille Gigantin“ gegolten, als „meistgeschätzte Unbekannte“, von der Bestsellerautoren wie Jonathan Franzen und Dave Eggers schwärmten und die Kritik sowieso. Jetzt kennen die Gigantin auch die Nicht-Eingeweihten. Sie schwärmen von Lydia Davis’ Geschichten, die im alltäglichen Sinn oft gar keine sind. Den meisten von ihnen fehlt eine Handlung. Die kürzeste in „Kanns nicht, wills nicht“ heißt „Haushaltsführungskontrolle“ und ist zwei Zeilen lang: „Unter all diesem Schmutz / ist der Boden wirklich sehr sauber.“ Die längste umfasst 34 Seiten. In allen betrachtet die Erzählerin die Welt durch die Lupe.

"Was ich als Lydia Davis sage, entwickelt ein Eigenleben

Es beginnt mit etwas, das mir auffällt oder einfällt“, erklärt Lydia Davis. „Das halte ich in einem Notizbuch fest, das ich stets bei mir trage. Manchmal bleibt es bei der Notiz, manchmal wird irgendwann etwas Größeres daraus.“ Mit ihrem Mann, dem Künstler Alan Cote, wohnt Lydia Davis in der grünen Einöde des Hudson River Valley in einem ehemaligen Schulhaus ein wenig außerhalb eines Dorfes mit knapp 600 Einwohnern. Ihren Unterricht an der Universität von Albany hat sie auf ein Minimum reduziert. Von ihrem Küchenfenster aus sieht sie auf weidende Kühe: „Jeder neue Tag, an dem sie aus dem hinteren Teil des Stalls hervorkommen, ist wie der nächste Akt oder der Beginn eines gänzlich neuen Stücks.“ So beginnt die Geschichte „Die Kühe“. Darauf folgt ein Krimi für Koma-Patienten, voller Wiederkäuer-Dramatik und subversiver Bukolik.

Sie spiele in ihren Geschichten die Rolle der Erzählerin, sagt Lydia Davis, sie sei aber nicht mit ihr identisch: „Was ich als Lydia Davis sage oder sehe, entwickelt ein Eigenleben, sobald ich darüber schreibe.“ Wie gut es ihr gelingt, sich selber zu vergessen, zeigt ihr Renommee als Übersetzerin. Lydia Davis hat unter anderem Marcel Prousts „Swanns Welt“ und Gustave Flauberts „Madame Bovary“ ins Englische übertragen und dafür viel Lob geerntet. „Es bereitet mir großes Vergnügen, als Proust lange komplizierte Sätze zu schreiben oder wie Flaubert abgehackter und schärfer.“

Mit dem Übersetzen hat Lydia Davis in den 1970er Jahren angefangen. Damals verbrachte sie mit dem Schriftsteller Paul Auster, ihrem ersten Ehemann und Vater ihres älteren Sohnes, einige Jahre in Frankreich. Die Arbeit an ihren eigenen Texten war eine Qual. Zunächst verfasste sie Gedichte, dann Geschichten, die sie endlos zusammenstrich und wieder ergänzte. Ihr bisher einziger Roman entstand unter ähnlichen Schwierigkeiten. „Das Ende der Geschichte“ (1995) wuchs schließlich aus zwei Geschichten zusammen. In der einen erinnert sich eine Frau an eine Liebesaffäre. In der anderen versucht eine Frau, die sich an eine Liebesaffäre erinnert, darüber zu schreiben. Das sei ziemlich verwirrend geworden: „Ich ärgerte mich über den Verlust eines Notizzettels und schrieb gleich darauf, wie die Figur in meiner Geschichte sich über den Verlust eines Notizzettels ärgert.“

Ob eine Idee zum Dreizeiler gedeiht oder zum Roman, ist für Lydia Davis eine Frage der Angemessenheit. „Die Länge und der Ton ergeben sich aus der Geschichte selbst.“ Wie in „Bloomington“: „Nun, da ich mich hier seit kurzem aufhalte, kann ich mit Sicherheit sagen, dass ich noch niemals hier war.“ Damit ist zumindest in dieser Sache alles gesagt.

Die Ichs von Lydia Davis beharren unerbittlich auf Kleinigkeiten und haben feste Ansichten. Der literarische Reklamationsbrief ist deshalb eine ideale Gattung, die Lydia Davis vielleicht nicht erfunden, ganz bestimmt aber perfektioniert hat. Niemand beklagt sich eloquenter über die unattraktive Abbildung auf einer Packung Tiefkühlerbsen als Lydia Davis’ Tiefkühlerbsenkonsumentin in ihrem Schreiben an den Produzenten. Auf ihre eigene Beschwerde hin hatte man der richtigen Lydia Davis ein paar Gutscheine für eine andere Sorte Tiefkühlerbsen geschickt, was sie ärgerte: „Auf mein Anliegen ist die Firma überhaupt nicht eingegangen. Dabei wird die Abbildung auf der Packung den appetitlichen Erbsen wirklich in keiner Weise gerecht.“

Lydia Davis hat die kleine Obsession zur Kunstform erhoben und die Sublimation des Alltäglichen zu ihrer Spezialität gemacht. Humor und Melancholie prägen ihre Geschichten, ob sie über die Angst vor dem Tod im Flugzeug schreibt oder auf „Die Sprache der Telefongesellschaft“ achtet: „Das Problem, das sie unlängst gemeldet haben, funktioniert jetzt tadellos.“

Zu Fischen wird Lydia Davis vermutlich weiterhin ein gespaltenes Verhältnis haben. Als kleines Mädchen besuchte sie ein Jahr lang die Klosterschule der Ursulinen in Graz, während die Eltern in Wien ihren Forschungen nachgingen. Alle waren nett zu ihr, aber sie hatte Heimweh. Unwahrscheinlich, aber möglich, dass „Hausübung, zweite Schulstufe“ auf diese gemischten Gefühle zurückgeht: „Mal diese Fische an. Schneide sie aus. Stanze in jeden Fisch oben ein Loch. Zieh ein Band durch alle Löcher. Binde die Fische zusammen. Nun lies, was auf den Fischen geschrieben steht: Jesus ist ein Freund. Jesus versammelt Freunde um sich. Ich bin ein Freund von Jesus.“ Jesus hätte nur wenige Meter entfernt in der presbyterianischen Kirche von Hudson noch Termine frei. Aber Lydia Davis verzichtet. Sie muss jetzt zum Friseur.

Lydia Davis: Kanns nicht und wills nicht. Stories. Aus dem Amerikanischen von Klaus Hoffer. Droschl Verlag, Graz 2014. 300 Seiten, 23 €.

Sacha Verna

Zur Startseite