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Richard David Precht, 46, ist Philosoph und Autor. Sein Buch "Wer bin ich - und wenn ja wie viele?" gehörte zu den erfolgreichsten Sachbüchern des vergangenen Jahrzehnts.

© dpa

Interview: Richard Precht: "Wir erleben einen Aufbruch wie 1968"

Der Philosoph und Autor Richard David Precht erklärt, was im alten Jahr nicht gut war und was er vom neuen erwartet. Ein Gespräch über Rüsselfische, die neue Apo und sein Poncho-Trauma.

Von

Herr Precht, wir wollten mit Ihnen über das vergangene und das neue Jahr sprechen. Aber sagen Sie, Ihr Aquarium, das ist ja riesig!

800 Liter. Es wiegt 1,2 Tonnen.

Sie haben ein Faible für Fische?
Für Tiere allgemein, seit meiner Kindheit. Mein Großvater ist mit mir oft in den Zoo und durch den Wald gegangen. Ich habe mich auf Tiere spezialisiert, die man hier entdecken kann, mit Fernglas und Bestimmungsbuch. Weshalb ich mich eigentlich mehr für Vögel interessiere, aber die kann man in der Wohnung nicht halten. Jedenfalls nicht die, die ich spannend finde. Greifvögel zum Beispiel.

Greifvögel sind die Egoisten der Vogelwelt.

Sie sind die einzig wirklich monogamen Vögel.

Sind das nicht Schwäne?

Man hat deren Monogamie lange überschätzt, weil sie schlecht erforscht sind. Greifvögel sind unfreiwillig treu: Ein Steinadler kann in seinem Revier keinen zweiten Steinadler als Nahrungskonkurrenten dulden, weil er dann verhungern müsste. Also wird er jeden anderen verjagen, mit Ausnahme seines lebenslangen Partners. Die beiden verteidigen dann gemeinsam das Revier.

Herr Precht, wenn wir uns so umschauen, Sie wohnen hier allein in einer großen Wohnung...

Ich hoffe, dass mein Revier noch in Relation steht zu meiner Körpergröße und der Tatsache, dass hier vier Kinder schlafen.

Aber nicht regelmäßig.

Mein leiblicher Sohn ist zwei Tage in der Woche hier. Und meine Stiefkinder kommen häufig an den Wochenenden. Meine Frau und ich führen eine Fernbeziehung, weil sie in Luxemburg arbeitet und mein leiblicher Sohn hier in Köln bei seiner Mutter lebt.

In Ihrem Aquarium: Was sind das für Fische?
Das Highlight sind die schwarzen da: Elefanten-Rüsselfische. Sie gehören zur Familie der Nilhechte und sind die einzigen Lebewesen auf unserem Planeten, deren Gehirn im Verhältnis zum Körpergewicht größer ist als beim Menschen.

Was nicht zwangsläufig bedeutet, dass sie besonders schlau sind.
Sind sie aber. Da links ist der Chef. Haben Sie gesehen, was gerade passiert ist? Der jagt die anderen, er beansprucht die Hälfte des ganzen Beckens für sich. Alle drei, vier Minuten macht er das und sorgt so dafür, dass die anderen untereinander friedlich sind. Das ist die Gesetzmäßigkeit von Thomas Hobbes, der gesagt hat: Gesellschaften brauchen einen starken Herrscher, damit sich die anderen benehmen.

Ihre Fische haben also etwas Menschliches?
Ja, je schlauer diese Tiere wurden, desto anspruchsvoller wurde ihr Sozialleben. Ähnlich wie beim Menschen.
Sie sind ein Anhänger von Pjotr Kropotkin, dem russischen Naturforscher und Anarchisten.

Zumindest ist mir Kropotkin sehr sympathisch.

Er schrieb vor über 100 Jahren das Buch „Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt“ und rückt darin die Gemeinschaft in den Mittelpunkt.

Richtig. Und er sagt: Zumindest bei allen in Gemeinschaft lebenden Tieren muss man vom Interesse der Gemeinschaft ausgehen, nicht vom Interesse des Individuums. Die Kooperation spielt in der Entwicklungs- und Kulturgeschichte des Menschen eine größere Rolle als die Konkurrenz.

Aber Konkurrenzgesellschaften wie die amerikanische sind oft sehr erfolgreich.

Die setzt auch ein enormes Maß an Kooperation im ganz normalen Leben voraus. Also: Freundlichkeit, Höflichkeit, nicht-eigennützige Kooperation. Wenn ich zum Bäcker gehe, dann sage ich Guten Morgen, Bitte und Danke. Alles das wäre überhaupt nicht nötig. Ich könnte reingehen, aufs Brötchen zeigen, mein Geld hinlegen, Brötchen kriegen, rausgehen.

Kropotkin stellte sich gegen die Sozialdarwinisten, warnte vor der Individualisierung. Was vorher Gemeingut war, ginge verloren oder werde privatisiert.

Man kann sagen, dass der Kapitalismus des 19. Jahrhunderts die Fortsetzung eines bestimmten sozialdarwinistischen Gedankenguts war. Und weil dieser Kapitalismus nicht funktionierte, hat man die soziale Marktwirtschaft erfunden. Das war ökonomisch notwendig. Denn solange die Arbeiter schlecht bezahlt wurden, konnten sie die Produkte nicht kaufen. Unser Wohlstand basiert auf einer Mischung aus dem Eigennutz-Gedanken des Kapitalismus und dem Verteilungsgedanken.

Lassen Sie uns auf 2010 zurückblicken. Die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung kritisiert, dass die Schere zwischen Einkünften aus Erwerbsarbeit und aus Kapital weiter auseinandergegangen sei.

So betrachtet war 2010 ein schlechtes Jahr. Das gegenwärtige Wirtschaftswachstum blendet uns. Es suggeriert, alles ginge so weiter wie vorher, als gäbe es weiter mittel- bis langfristig Wachstum. Das ist vermutlich Unsinn angesichts der globalen Umverteilung der Märkte, der neuen Konkurrenzen, die entstehen werden, auch der gewaltigen Staatsverschuldung, mit der wir das Ganze letztlich finanzieren. Politisch hätte 2010 ein Jahr sein müssen, in dem wir einen Plan B entwickeln, was passiert, wenn wir dieses Wachstum nicht mehr haben. Das ist nicht geschehen, wir gehen seelenruhig auf den nächsten Crash zu.

Verfügt denn jemand über diesen Plan B?

Ich fürchte nicht. Die Mittelschicht, die Grundlage unseres ökonomischen Erfolges, wird seit 13, 14 Jahren kleiner. Daran ändert auch das Wachstum nichts. Weil wir einen hohen Prozentteil erwirtschaften, indem wir etwa den Chinesen Waren verkaufen. Was machen wir denn, wenn die in zehn Jahren die Autos alle selber bauen?

Ihnen ein anderes Produkt verkaufen.

Ich bin sicher, dass China unseren Vorsprung bis dahin aufgeholt hat. Ich kritisiere auch die Gewerkschaften. Denn denen fällt jetzt nichts anderes ein, als zu sagen: Wir wollen von dem gegenwärtigen Wirtschaftsboom was abhaben, als würde das alles noch so weitergehen wie in den 60er, 70er und 80er Jahren. Die gehören nicht zu den Vordenkern.

Und wer gehört für Sie dazu?

Es gibt eine ganze Reihe von klugen Intellektuellen, die sich darüber Gedanken machen. Nehmen Sie Hans Christoph Binswanger, den Schweizer Ökonomen, oder aus dem konservativ-liberalen Lager Meinhard Miegel.

Binswanger sagt, Wachstum wird es nicht mehr ewig geben und wir müssen die Gesellschaft auf eine neue Grundlage stellen.

Binswanger hat sich mit diesem erstaunlich geheimnisvollen Mechanismus beschäftigt. Es gibt nämlich nicht mal drei Leute, die sich einig sind, warum man Wachstum benötigt. Das stellt man fest, wenn man versucht, das Modell einer Gesellschaft zu entwickeln, die kein materielles Wachstum braucht. Die Mechanismen, die Wachstum erfordern, sind im Detail weit schlechter erforscht, als es auf den ersten Blick erscheint. Binswanger ist der Überzeugung, das Ganze habe in erster Linie mit dem Kreditsystem zu tun.

Er meint, die Banken sollten...

… in Genossenschaften überführt werden. Oder in Stiftungen. Das Problem ist, dass Leute, die Alternativen aufzeigen, keine Lobby haben. Nach geltendem europäischem Recht sind solche Vorstellungen ja völlig utopisch.

Warum sollte ein Politiker besser einem Philosophen zuhören?

Es ist ja nicht so, dass unsere Politiker die Realität nicht mehr sehen. Sondern: Sie sind Taktiker, Experten in kurzfristiger Vernunft – aber schlecht in punkto Strategie. Die Dominanz der kurzfristigen Vernunft arbeitet gegen das, was langfristig vernünftig ist. Das ist unser gegenwärtiges Dilemma. Ich bin auch nicht der Einzige, der das kritisiert. Vieles von dem, was ich sage und anmahne, ist nicht allein auf meinem Mist gewachsen. Häufig fällt mir die Rolle zu, das Wissen von sehr vielen verschiedenen Experten zusammenzufassen und zusammenzubringen. An den Universitäten würde man so jemanden einen Diskurskonnektor nennen. Wir brauchen viel mehr davon, weil wir immer weniger Leute haben, deren berufliche Aufgabe darin besteht, über eine eigene Domäne hinaus komplexe Sachverhalte zu verstehen.

Wenn Peter Sloterdijk Steuern als Enteignung bezeichnet, ist er dann Diskurskonnektor?

Das ist doch nur ein Spielchen, Sloterdijk ist viel zu intelligent, als dass er das ernst meinen kann. Dadurch, dass wir das Steuersystem, so wie wir es kennen, eingeführt haben, haben wir überhaupt erst den heutigen Wohlstand für viele hervorgebracht. Auch die Sicherheit auf den Straßen, dass jemand den Müll entsorgt, dass es eine Kanalisation gibt und so weiter. Sloterdijk interessiert sich nur eingeschränkt für die soziale Realität. Er sieht die Philosophie als eine ästhetische Veranstaltung: Andere Leute malen Bilder und er macht schöne Sätze. Für mich dagegen sind Philosophen eher Ingenieure.

Sie wollen Strategie in die Diskussion bringen, damit wir über Ziele nachdenken.

Wir haben eine Gesellschaft, die über Ziele nicht mehr diskutiert. Wir haben sogar ganz konkret eine Regierung und eine Kanzlerin, deren Hauptsorge der Erhalt der eigenen Macht ist. Kohl hatte Visionen; der wollte Europa haben, den Euro. Und Schröder ist angetreten, um nach seinen neoliberalen Vorstellungen den Sozialstaat flott zu machen. Was ist das Programm von Angela Merkel?

Wenn Sie’s schon nicht wissen… Der Wirtschaftsethiker Christoph Lütge schrieb im „Focus“, Sie würden „Gruselpositionen aus dem Kabinett des Antikapitalismus“ vertreten.

Der Vorwurf, den mir Herr Lütge macht, ist, dass ich gesagt habe, der Markt bringe aus sich heraus keine Moral hervor.

Sie sprechen sogar von einem „Moralzehrer“.

Das ist nicht von mir, sondern von Wilhelm Röpke, einem der Väter der sozialen Marktwirtschaft. Was Lütge nicht verstanden hat: Ich bestreite nicht, dass Unternehmen auch moralisch handeln können. Aber: Wenn sie moralisch handeln, dann speisen sie ihre Energie nicht aus den Kräften des Marktes, sondern aus anderen Quellen. Beim Markt geht es dem Einzelnen immer nur darum, das Optimum für sich herauszuholen. Das bringt uns wirtschaftlich nach vorne, das möchte ich auch gar nicht ändern.

Und was sind die anderen Quellen?

In keiner Firma werden Sie besser bezahlt, weil Sie ein guter Mensch sind. Das heißt: Sie müssen die Moral aus einer externen Quelle dazuholen, und nicht aus der Logik des Systems heraus. Und die Aufgabe der Politik ist, dafür zu sorgen, dass diese zweite Quelle erhalten wird: Gesellschaft, Kommunen, menschliches Zusammenleben, moralische Grundlagen, Fairness, Tugend...

Lütge kennt wohl Ihre Filmbiografie „Lenin kam nur bis Lüdenscheid“ und schließt bei Ausdrücken wie „Moralzehrer“ auf Ihr DKP-nahes Elternhaus.

Das wäre lustig, weil das Wort von einem Liberalen stammt. Meine Eltern standen der DKP übrigens nur zwei, drei Jahre nahe, Mitte der 70er.

Das spielt in dem Film aber eine große Rolle.

Weil das für mich damals eine prägende Geschichte war. Meine Eltern hinterließen mir das große Problem, dass, als ich erwachsen wurde, der Sozialismus zusammenbrach, und ich mir die Frage stellte: Wenn das nicht die Wahrheit war, was ist dann die Wahrheit?

Das war nicht das einzige Problem, was sie Ihnen hinterlassen haben. Sie durften keine Coca Cola trinken und auch nicht ins Phantasialand, mussten aber Second-Hand-Klamotten tragen.

Ja. Aber die Vorteile waren, dass wir in ein sehr intellektuelles Milieu hineingewachsen sind mit einer anregenden Gesprächskultur. Das sagen Sie heute.

Ach, als Kind war ich glücklich.

Schlimm war die Pubertät. Als Anfang der 80er Jahre der Markenfetischismus losging, konnte ich nicht mithalten, wurde von den Mädchen nicht angeguckt. Einer meiner ehemaligen Lehrer hat mir gerade ein Foto geschenkt. Wollen Sie mal sehen? Ich bin der hier, mit dem südamerikanischen Poncho. Das war in der achten Klasse, so mit 13, 14 Jahren.

Wäre es für einen Pubertierenden in Ihrer Lage nicht normal gewesen, sich abzugrenzen und vielleicht ein Adenauer-Poster aufzuhängen?

Um Himmels Willen, nein. Meine Eltern boten nicht so viel Angriffsfläche. Mein Vater war nett und lieb, gegen ihn konnte ich nicht kämpfen. Aber ich hatte natürlich Lehrer, gegen die ich gekämpft habe. Das heißt, die Autoritäten, gegen die ich mich aufgelehnt habe, waren eben nicht zu Hause, die waren woanders. Meine Eltern waren in vielen Positionen Außenseiter. Ich habe die Außenseiterposition verteidigt.

Sie sind immer sehr schick angezogen, ist das eine Folge südamerikanischer Ponchos?

Das Kompliment geht an meine Frau. Wir gehen einmal im Jahr zusammen einkaufen. Ich interessiere mich nicht allzu sehr für Klamotten.

Sie erklären gerne die Welt. Stört es Sie, wenn man Sie einen Oberlehrer nennt?

Nein, fantastische Welten wie Philosophie, Sozialpsychologie, Biologie oder Verhaltensforschung einer großen Zahl von Menschen schmackhaft zu machen, ist eine tolle Aufgabe. Übrigens sollte „Wer bin ich – und wenn ja wie viele?“ ursprünglich ein Jugendbuch sein. Weil meine Frau sagte: Wenn du auf einer Papiertischdecke den Marxismus erklärst, dann versteht man das auch.

Haben Sie mal geplant, in die Politik zu gehen?

Ich kann mir nicht vorstellen, was ich oder die Partei, in die ich dann eintreten müsste, davon hätten. Ich könnte ja im Gegensatz zu heute nicht meine Meinung frei sagen, dürfte die Leute aus der eigenen Partei nicht mehr kritisieren.

Sie sind auf dem Parteitag der FDP aufgetreten.

Christian Lindner hatte mich gefragt, ob ich Lust habe, das zu machen. Es war eine gute Gelegenheit, einige grundsätzliche Dinge, die ich der FDP schon immer mal sagen wollte, zu sagen.

Und die wären?
Die FDP hat dann eine Perspektive, wenn sie es schafft, die Transformation der Gesellschaft in eine Bürgergesellschaft zu fördern, statt sie zu bekämpfen. Und zweitens muss sie einsehen, dass nur ein starker Staat dafür sorgen kann, dass die unheilvolle Entwicklung des Zusammendrückens der Mittelschicht aufgehalten werden kann.

Wenn Sie Bürgergesellschaft sagen, meinen Sie auch den Protest gegen Stuttgart 21?

Wir sehen vermutlich den Beginn eines gewaltigen Aufbruchs, den man am ehesten mit ’68 vergleichen kann – in der Dimension, nicht in der politischen Ausrichtung. Ich glaube, dass Merkel und Westerwelle eine ähnliche Rolle haben wie Ludwig Erhard und Kiesinger in den 60er Jahren. Sie versuchen, diese Transformation aufzuhalten, aber sie wird kommen.

Es gibt nicht nur den Protest in Stuttgart, es gibt auch die Flughafendiskussion in Berlin. Bei fast allen Großprojekten haben wir Betroffene, die nicht wollen, dass dieses Vorhaben bei ihnen realisiert werden soll.

Es gibt Menschen, die sagen: Das sind Rückwärtsgewandte, die wollen die Moderne aufhalten. Aber das ist ein Irrtum. Man unterstellt, die Leute seien nur dagegen und begreift nicht, dass es längst ein neues Dafür gibt, das von der augenblicklichen Regierung blockiert wird. Kleines Beispiel, Hauptargument für Stuttgart 21 ist: schneller machen. Ich will gar keinen schnelleren Zug.

Die meisten Leute schon.

Es gibt den innerdeutschen Flugverkehr und immer schnellere Bahntrassen. Alles, um Zeit zu sparen. Trotzdem haben die Leute heute keine Zeit mehr. Merkwürdig, oder? Wovon wir abkehren müssen, ist eine Vorstellung von Moderne, die im Schneller, Höher und Weiter besteht. Hin zu einer Moderne, die in mehr Zeit, mehr Sozialem besteht. Wir müssen in Zukunft versuchen, Sinnbedürfnisse nicht mehr nur materiell zu lösen. Das ist die Transformation, die im Augenblick passiert. Welches sind die Werte, von denen man sich Glück und Zukunft verspricht? Und weil die Parteien darauf nicht eingehen, haben wir diese enorme Parteienverdrossenheit. Ich prophezeie Ihnen: Sie werden kein glücklicherer Mensch, wenn die Bahnen noch schneller fahren.

Gerade erst ist die Laufzeitverlängerung der deutschen Atomkraftwerke in Kraft getreten. Wo bleibt da die Transformation?

Die Laufzeitverlängerung ist gegen den Willen eines großen Teils der Bevölkerung in Kraft getreten. So etwas sollte es in Zukunft nicht mehr geben dürfen. Das eigentliche Problem ist, dass die Menschen mehr Chancen bekommen müssen, direkt an der Demokratie beteiligt zu sein.

Wie könnte das konkret aussehen?

In den Kommunen könnte man sagen: Wir haben ein bestimmtes Budget und es gibt folgende Vorschläge, wie man es verwendet – und dann stimmen die Leute ab. Hätte man die Kölner gefragt, ob sie die neue U-Bahn wollen, die nun wirklich niemand braucht, hätten die sofort nein gesagt. Das Zweite, was ich mir wünsche, ist eine schrittweise Entmachtung der Bundesländer. Nicht im Jahr 2011, aber auf lange Sicht. 16 Bundesländer halten den Laden enorm auf. Drei wären genug.

Und wie sollen sich die Kommunen gegenüber dem Bund durchsetzen?

Wir könnten den Bundesrat abschaffen und ihn durch eine Vertretung von Oberbürgermeistern und Landräten ersetzen. Die Leute, die da drin säßen, wären direkt gewählte Volksvertreter. Die würden nicht so sehr den Interessen ihrer Partei folgen. Denn der CDU-Bürgermeister hat die gleichen Probleme wie sein SPD-Kollege, die sind sich in vielen Dingen einig.

Wer soll Ihre großen Visionen umsetzen?

Das Dilemma ist, dass es auf Bundesebene zu den Parteien keine Alternative gibt.

Braucht es eine neue Apo – wie nach ’68?

Ich denke, dass die sich ohnehin entwickelt. Zu einem großen Teil wird sie wohl im Internet und nicht mehr im Audimax einer Uni stattfinden.

Reden wir mal über eine ganz andere Veränderung: Im neuen Jahr wird es auf der ARD mehr abendliche Talkshows geben.

Ich wünsche mir weniger Politiker und dafür echte Experten als Gäste. Ich habe keine Lust, über belanglose Äußerungen von Horst Seehofer oder Guido Westerwelle zu reden.

„Bild“ hat eine Liste mit den 30 nervigsten Talkshowgästen zusammengestellt. Sie waren auf Platz 22: „Ein Kuschelphilosoph, der niemandem etwas Böses sagt.“

Im Gegensatz zu vielem anderen ist das doch sehr harmlos. Wenn ich einen Artikel lese, wo als erstes von meinen Haaren die Rede ist, weiß ich immer: Das hat ein Mann geschrieben. Stutenbissigkeit gibt es nicht nur bei Frauen.

Was ist eigentlich aus ihrem Berufswunsch, Tierparkdirektor in Ost-Berlin, geworden?

Das kann ja noch kommen.

Wenn Sie ein Tier wären, welches wären Sie gerne?

Ein Affenadler. Der heißt so, weil er Affen frisst. Ein riesiger Vogel, der fast lautlos fliegt: einen Meter lang, die Flügel haben eine Spannweite von zwei Meter. Im philippinischen Regenwald gibt es noch so 200, 300 Stück. Ich bin dort gewesen und habe sie fotografiert. Alle Vögel sind ja überlebende Dinosaurier, aber dem Affenadler sieht man das richtig an. Der hat relativ lange Beine und läuft damit auf den Ästen, was ein normaler Greifvogel nicht macht. Mit seinem großen Schnabel und seinen federnden Schritten sieht der wirklich aus wie ein Velociraptor.

Das ist doch einer der Bösewichte aus dem Film „Jurassic Park“.

Der Affenadler hatte schon in meiner Kindheit eine enorme Faszination auf mich. Wenn ich dem in die graublauen Augen schaue, das packt mich in der Seele.

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