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Ian Mc Ewan: Roman: Die Fallhöhe eines Nobelpreisträgers

Die Retter sind selber nicht zu retten: Ian McEwan und sein neuer Roman „Solar“

Der Wissenschaftler galt einst als unkorrumpierbare, allein dem Fortschritt verpflichtete, vielleicht ein wenig weltfremde Figur. Man wusste, dass er die Dinge, wenn nicht zu einem glücklichen, dann doch zumindest zu einem nützlichen Ende führen wollte. Michael Beard, der Held von Ian McEwans neuem Roman „Solar“, bricht mit einigen dieser Erwartungen. Als junger Mann erhält dieser verhängnisvolle Charakter den Physik-Nobelpreis für seine Forschungen zur Interaktion von Materie und elektromagnetischer Strahlung. Seither sammelt er Ämter, Ehrendoktorwürden und Ehefrauen. Nummer fünf, die er wie alle anderen zuvor zügellos betrügt, ist nun ihrerseits dabei, Beards Herz zu brechen.

Die Fallhöhe ist enorm: Von seinem Institut, wo er noch immer als Koryphäe gilt, zum häuslichen Rosenkrieg sind es immer nur wenige Seiten. Aber warum sollten Nobelpreisträger eigentlich nicht Teil der menschlichen Komödie sein? Man kann wahrlich nicht behaupten, dass Beard sehr viel tun würde, um Lächerlichkeiten und Fettnäpfe zu umgehen. Manchmal nimmt das slapstickhafte Züge an, und man wähnt sich eher in einer Blake-Edwards-Komödie über die Midlife Crisis als in einem Roman von Ian McEwan. Lustiger und platter hat McEwan seine Helden jedenfalls noch nie durch die Welt stolpern lassen.

Beard hat ein Talent zur Tragikomik, und sein Äußeres passt sich der Witzfigur, zu der er geworden ist, immer mehr an. Denn zu seinen Leidenschaften gehört nicht nur die Eroberung von Frauen, sondern auch der fast schon pathologische Konsum von Alkohol und Junk Food, vornehmlich Kartoffelchips.

Dem Chips-Laster verdankt sich auch eine der bezeichnendsten Stellen des Romans: Beard ist auf dem Weg zu einem Vortrag. Auf dem Bahnhof kauft er sich eine Packung mit Salt and Vinegar Crisps, und im Zug kann er nicht mehr an sich halten, reißt die Tüte auf und möchte sie sich einverleiben. Der Hüne, der ihm gegenübersitzt, sieht ihm aufmerksam zu, greift plötzlich ebenfalls in die Tüte und isst von den Chips, und so geht das eine ganze Weile weiter.

In Beards Kopf arbeitet es gewaltig, er weiß nicht, wie er reagieren soll. Die beiden stehen sich gegenüber wie zwei Boxer, die auf den ersten Angriff des Gegners warten. Aber Beard tut nichts, sondern steigt verwundert, verärgert und beschämt an seiner Haltestelle aus. Erst auf dem Bahnsteig entdeckt er, dass seine eigene Tüte Chips sich noch in seiner Manteltasche befindet und er es war, der dem Fremden das Knabberzeug weggegessen hatte. „Sein Irrtum war so eindeutig, so absolut, er hatte sich dermaßen vor sich selbst als Narr entlarvt, dass er sich erlöst und geläutert fühlte wie ein bußfertiger Sünder, wie ein mittelalterlicher Geißler mit frisch geschundenem Rücken.“

Ian McEwan
Ian McEwan

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In seinem Vortrag, der von der Rettung der Welt durch Solarenergie handelt, nutzt er die Episode, um die Zuhörer auf seine Seite zu ziehen. Aber eigentlich durchschaut er auch sich selbst nie so recht. Beard ist ein lebender Widerspruch. Er widerlegt alle durchaus vorhandenen rationalen Tendenzen in sich durch sein Tun. Er kann sich nicht beherrschen und versucht dennoch, seine Umwelt zu beherrschen. All das endet in diversen Katastrophen: Er verliert seine Frau an einen Bauarbeiter, dann an seinen höchst ambitionierten Assistenten. Der kommt bei einem verbalen Showdown beim Sturz über das Bärenfell im Wohnzimmer auf unglückliche Weise zu Tode.

Beard ahnt, dass ihm keiner Glauben schenken würde, dass es sich um einen Unfall handelte. Also lässt er das Unglück wie eine Tat aussehen und schiebt sie dem anderen Nebenbuhler, dem plumpen Bauarbeiter, in die Schuhe, der dann auch flugs ins Gefängnis wandert. Da die wissenschaftliche Karriere des Mittfünfzigers auch nicht mehr vielversprechend verläuft, bemächtigt er sich der Aufzeichnungen jenes jungen Assistenten, der erstaunliche Erkenntnisse zur Nutzung der Sonnenenergie erarbeitet hat.

Der zweite und dritte Teil des Romans sieht Beard wieder im Aufwind: neue Frau, neue Geliebte, ein Projekt, das ihn zum Retter des Planeten werden lassen könnte. Darunter tut es McEwan diesmal nicht. Eingebettet in diese große Farce sind allerhand wissenschaftliche Fundstücke. Ausführliche Passagen behandeln das Projekt, mit dem Beard nicht nur reich werden, sondern auch seinen Ruf aufpolieren möchte.

McEwan hat sich mit der Forschungsliteratur beschäftigt und lässt seine Exzerpte, die zwischen Wissenschaft und Science Fiction balancieren, locker in sein Buch einfließen – nicht allzu aufdringlich und spröde, aber auch nicht sehr suggestiv. Und McEwan hat geschickterweise den Optimismus und das Zutrauen ins zukünftig Machbare mit einer Figur verknüpft, der man jegliche Integrität absprechen kann – nichts wäre ja unerträglicher als ein tadelloser Weltenretter. Beard allerdings ist auf gewisse Weise nicht weniger unerträglich: Man nimmt es ihm doch nur schwer ab, dass er irgendwann einmal zu allen Hoffnungen Anlass gab.

Nur einmal hat er ein existenzielles Erlebnis, mit einem Eisbären, der ihm auf einer Scholle recht nahe kommt. „Was für eine befreiende Entdeckung“, denkt Beard, glücklich mit dem Motorschlitten der Gefahr entronnen, „dass er, ein Mensch der Moderne, ein Stadtbewohner und Stubenhocker, der von Tastatur und Bildschirm lebte, zur Strecke gebracht, in Stücke zerrissen und zu einer vollwertigen Mahlzeit werden konnte, zu einer Nahrungsquelle für andere!“

Die Natur kann zurückschlagen, aber anders als gedacht. Michael Beard ist ein mürrischer Kauz, bei dem man sich immer wieder fragt, ob seine Wirkung auf Frauen alleine auf seinem Nimbus als Nobelpreisträger beruhen kann. Man muss Beard und seine Neurosen wohl symbolisch lesen: Die Welt soll von jenen gerettet werden, die selber dabei sind, sich abzuschaffen, wozu im Übrigen auch Beards Weigerung gehört, Kinder in die Welt zu setzen. Das ist ungefähr so, wie wenn man einem Junkie das Gesundheitsministerium anvertraut und ihn damit beauftragt, des Drogenkonsums Herr zu werden. Oder wie wenn man einen Fettwanst bittet, mit einem Diätprogramm die Volksgesundheit zu steigern. Wir, die wir mit unseren Schwächen immer wieder vom hehren Weg abzweigen, erkennen uns irgendwie in diesem unsympathischen, über die Jahre karrieregeil gewordenen Michael Beard wieder. Er ist unser schlechtes Gewissen. Beard repräsentiert alles, was die Gesellschaft am Fortschreiten hindert. Er ist das Menschheitsproblem und zugleich Teil der Lösung. „Solar“ ist vielleicht der Roman zur Zeit, weil er eindrücklich und mit ironischer Nonchalance die drängendsten Themen der Gesellschaft reflektiert. Aber er tut das sehr plakativ. Und mit allzu großer Gewissheit, dass man sich auch mit den überdrehtesten Wendungen – wenn am Ende Beards gesamtes Lügengebäude zusammenbricht – noch mitdreht.

Ian McEwan: Solar. Roman. Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Diogenes

Verlag, Zürich 2010. 405 Seiten, 21,90 €.

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