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 Der Autor Akos Doma.

© Yves Noir/ Robert Bosch Stiftung GmbH

Roman von Akos Doma: Lass die Lügen hinter dir

Fremdheit, Entwurzelung, moralische Korruption: Akos Doma schreibt den Roman einer Flucht aus Ungarn nach Deutschland. Das Buch steht auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis.

Ein großes Familienfest eröffnet diesen Roman: Misi, der Sohn von Teréz und Károly, feiert seinen siebten Geburtstag. Die Großeltern sind da, Onkel und Tanten. Károly kommt nach Hause, einen Hundewelpen in der Tasche, einen kleinen schwarzen Puli. Es gibt Tränen, weil Misi sich einen großen weißen Hund gewünscht hat, aber die sind schnell getrocknet. Eine scheinbare Idylle, in die Akos Doma in Form von blitzartigen Gedanken und Gesprächsfetzen Zweifel sät: Teréz hat soeben ihre Universitätsstelle verloren. Ohne Begründung wurde sie von Budapest aufs Land versetzt, was einer Kündigung gleichkommt.

Die Begründung musste nicht ausgesprochen werden: Teréz weigert sich standhaft, in die Partei einzutreten. Das genügt. Károly wiederum, ebenfalls Mitarbeiter der Universität, verkündet, er habe ein Stipendium für Deutschland erhalten. Für West-Deutschland. Immer wieder wird der Finger an die Lippen gelegt und zur Wand gedeutet. Der Nachbar arbeitet beim Innenministerium. Die Familie vermutet in ihm einen Spitzel. Und Teréz kommt ein Gedanke: „Alles hinter sich zu lassen, die Lügen und die Lügner, die Opportunisten, die Karrieristen, die Feiglinge, dieses ganze System von Gefälligkeiten und Gegengefälligkeiten. Ein neues Leben zu beginnen.“ Ein Jahr später setzen sie den Plan um.

Akos Doma kam mit 14 nach Deutschland

„Der Weg der Wünsche“ ist ein autobiografisch grundierter Roman. Akos Doma, 1963 in Budapest geboren und heute im bayrischen Eichstätt zu Hause, emigrierte als Kind mit seinen Eltern aus Ungarn nach England und kam im Alter von 14 Jahren nach Deutschland. Für seinen Roman „Die allgemeine Tauglichkeit“ wurde er 2011 mit dem Adelbert-von Chamisso-Förderpreis ausgezeichnet; mit dem neuen Buch steht er nun auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis.

„Der Weg der Wünsche“ ist ein gradlinig erzählter, ungemein spannender und äußerst erhellender Roman, der die Erlebnisse von gleich mehreren Fluchterfahrungen miteinander verquickt. Zunächst brechen Teréz, Károly, Misi und seine 15-jährige Schwester Bori an einem Sommertag im Jahr 1972 in einem VW Käfer auf in den Urlaub Richtung Plattensee. So haben die Eltern es den Kindern erzählt. Sie haben Wertgegenstände zurückgelassen, Kleidung, und auch die blauen Pässe, die Teréz und Károly für den Stipendienaufenthalt in Deutschland ein Jahr zuvor ausgestellt wurden. Wer mit den blauen Pässen in sozialistischen Ländern unterwegs war, machte sich umgehend der Republikflucht verdächtig.

Nüchtern, ohne moralischen Impetus

In Wahrheit geht es nicht an den See, sondern weiter nach Jugoslawien, um von dort aus eine Möglichkeit zu finden, sich irgendwie nach Italien durchzuschlagen. Sie sind ein seltsames Paar, Teréz und Károly. Er ein wenig unpraktisch veranlagt und naiv. Sie mit festen Lebensgrundsätzen, die letztendlich auch den Antrieb für die Flucht darstellen: Es ist nicht die Sehnsucht nach einem ökonomisch besseren Leben, im Gegenteil; der Kapitalismus widert sie an. Es ist vielmehr der Wunsch, nicht weiter in einem geistig verkommenen, korrupten Land leben zu wollen.

Wie Doma den Weg der Familie nach Italien nachzeichnet, die vielfachen Anläufe, über die Grenze zu kommen, die widersprüchlichen Gefühle von Mut und Verängstigung angesichts des ungeheuerlichen Wagnisses, ist bereits höchst beklemmend, wird aber noch gesteigert von der Schilderung dessen, was die Familie anschließend im italienischen Flüchtlingsaufnahmelager erwartet. Ganz und gar ohne moralischen Impetus, sondern nüchtern, klar und anschaulich zeigt Doma, dass Teréz und Károly sich im Grunde genommen in exakt denselben Strukturen wiederfinden, aus denen sie geflohen sind, nur dass die Umstände noch unwürdiger sind. Die Baracke, in der sie hausen müssen, ist dreckig; in der Nacht fallen die Ratten über die Lebensmittel her; und die Chance, aus dem Lager herauszukommen, liegt ausschließlich in den Händen des zwielichtigen Lagerleiters. Noch dazu scheint die ungarische Geheimpolizei selbst hier, im Lager, Spitzel positioniert zu haben. Einer von ihnen, auch das eine mitreißende Episode, macht sich an Bori heran, um sie als Druckmittel gegen ihre Eltern benutzen zu können.

Die Geschichte einer Entwurzelung

„Der Weg der Wünsche“ beleuchtet zum einen die rein äußeren Umstände einer Entwurzelung, zum anderen gelingt es Akos Doma, anschaulich zu machen, wie Menschen in der Drucksituation des Ausgeliefertseins ihre eigenen Maßstäbe und Wertvorstellungen zu revidieren bereit sind. Und wie es sich anfühlt und anhört, wenn ein kleiner Traum nach dem anderen zerplatzt.

Warum der Familie der Weg aus dem Lager eines Tages offensteht und wie Teréz dafür gesorgt hat, wird Károly nie erfahren. Die Gegenwarts-Erzählebene ist gegengeschnitten mit Teréz’ Erinnerungen an ihre Flucht mit der Mutter und den Geschwistern im Jahr 1945. Wenn es einen Einwand gegen diesen Roman geben könnte, dann wohl den, dass Doma diesen Strang mit einem doch allzu brachialen Schockeffekt auslaufen lässt. Das ist allerdings eine Petitesse gegen das, was „Der Weg der Wünsche“ zu einem so gelungenen Buch macht. Es wäre wohlfeil, den Roman als Folie für die Flüchtlingsschicksale der Jetztzeit heranzuziehen. Das Gefühl von Fremdheit und Heimatlosigkeit als großes Thema ist auch abseits des Tagesgeschehens ein großer literarischer Stoff. Akos Doma: Der Weg der Wünsche. Roman. Rowohlt Berlin, 2016. 334 Seiten, 19,95 €.

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