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Studierte Altphilologin. Die englische Poetin Alice Oswald.

© Mauritius / Jeff Morgan 13 / Alamy

S. Fischer Gastprofessorin Alice Oswald: In sieben Dimensionen

Krieg als ewige Gegenwart: Die englische Dichterin Alice Oswald liest in der Literaturwerkstatt aus ihrem homerisches „Memorial“.

Von Gregor Dotzauer

Drei Jahre lang hörte sie den Menschen zu, die entlang des River Dart in der englischen Grafschaft Devon leben. Sie erfuhr, wie es einem Wilderer, einem Förster, einem Kläranlagenarbeiter oder einem Fährmann ergeht. Aber „Dart“, das große, über 64 Seiten mäandernde Poem, das Alice Oswald 2009 berühmt machte und ihr den T.S. Eliot Prize eintrug, wäre so nicht entstanden, wenn nicht eines Nachts der Fluss selbst zu ihr gesprochen hätte. Während sie sich am Ufer zum Schlafen niederlegte, flüsterte er ihr etwas zu, das sie mühelos verstand und am nächsten Morgen sofort Eingang in das Gedicht fand.

So, wie sie anlässlich ihrer S. Fischer Gastprofessur an der Freien Universität in der Literaturwerkstatt davon erzählt, wirkt sie einen Moment lang wie ein spiritistisches Medium. Gerade erst ist sie aus dem Geisterstundendämmer, in dem sie eine knappe Stunde lang auswendig ihr noch umfangreicheres Gedicht „Memorial“ vorgetragen hat, ins normale Bühnenlicht getreten. Die Stimmen, die durch sie hindurch zu sprechen schienen, münden in die eine, mit der sie ein Selbstverständnis erklärt, das sofort wieder wegführt von ihrer Person, hin zu einer Polyphonie, innerhalb derer der Dichter nur Zusammenhänge koordiniert, die jede Subjektivität übersteigen.

Alice Oswald, 1966 in Reading geboren und mit ihrem Mann, dem Dramatiker Peter Oswald, und den gemeinsamen drei Kindern in Totnes am River Dart zu Hause, webt jedoch viel zu bewusst am kollektiv Unbewussten mit, als dass sie Schreiben als inspirationsduselige Séance betrachten würde. Sie zieht es vor, sich als Übersetzerin zu betrachten. Ich mag das Wort von der Übersetzung, sagt sie, selbst dort, wo ich nicht eigentlich übersetze. Und wenn sie dabei am Rand ihres heimatlichen Flusses, der im Dartmoor entspringt und bei Dartmouth im Ärmelkanal verschwindet, aus einer nicht menschlichen Sprache übersetzt, wird es für sie erst recht reizvoll.

„Memorial“ (Faber & Faber) ist sogar in noch viel höherem Maße Übersetzung als „Dart“. Es ist ein Dialog mit Toten, den sie einem Werk abgelauscht hat, hinter dessen Verfasser sich wahrscheinlich eine ganze Reihe von Autoren verbirgt, die es vor rund 3000 Jahren zusammengetragen haben. Homers „Ilias“, die Erzählung vom Trojanischen Krieg, stammt nicht zuletzt deshalb vom für sie noch immer zeitgenössischsten aller zeitgenössischen Dichter. Kein anderer, sagt sie, geht so gerecht mit den Dingen der Welt um. Das Blatt eines Baumes gerät ihm so plastisch wie die Beschreibung eines Heldentodes. Jedes Wort steht in vollendeter Dreidimensionalität da, ja es suggeriert manchmal die Existenz von sieben Dimensionen.

Ein oraler Friedhof mit 200 Namen

Zugleich ist die „Ilias“ in Alice Oswalds „Memorial“ bis auf die Namen der 200 toten Krieger, die sie zu einem „oralen Friedhof“ aufgeschichtet hat, kaum noch erkennbar. Das Epos ist unter Auslassung von sieben Achteln des Stoffes erzählerisch entbeint. „Dies ist eine Übertragung der Atmosphäre der ,Ilias‘, nicht ihrer Handlung“, schreibt sie im Vorwort zu „Memorial“, das 2017 in der Übersetzung von Melanie Walz im S. Fischer Verlag erscheint (Auszüge in der „Neuen Rundschau“ 2014/2). Die dichterische Totenklage will die „enargeia“ des Originals aufnehmen. Oswald sucht weder einen historisierenden Zugang noch einen aktualisierenden – wie Christopher Logues imposante „War Music“. Auch wenn gelegentlich ein Fallschirmspringer vom Himmel fällt oder ein Motorrad übers Schlachtfeld braust: Oswald inszeniert Krieg als ewige Gegenwart.

Die Vielzahl derer, die sie im Moment des Todes namentlich festhält, muss heutige Leser schon wegen der Lautgestalt fremd und verwirrend anmuten. Gerade dadurch aber werden sie erinnerbar: kenntlich gemacht in eben jener Sekunde, in der sie ein Speer durchbohrt oder das Meer verschlingt: „ECHEPOLOS ein vollendeter Krieger / Stets seinen Männern voraus / Bekannt für kühle fast naturgegebene Konzentration / Schier unverwundbar zwischen all den Speeren / Starb von der Hand des Antilochos // Da ist das Loch in dem Helm unterm Rand / Wo die Speerspitze eindrang / Und in seiner Stirn stak / Und das Dunkel über seine Augen goss“.

Dem Blutvergießen gegenüber steht etwas fast Idyllisches: die stille Ordnung der Natur. Im ständigen Wechsel von menschlicher Zeit, die durch den Tod definiert wird, und dem Werden und Vergehen der Elemente, einer Parallelität, die Oswald seit jeher fasziniert hat, entsteht ein unauflösliches Geflecht, das, obwohl es zweifellos zur Sphäre der Kunst gehört, nicht zum Ästhetisieren neigt – und schon gar nicht zum Moralisieren.

„Memorial“ bewegt sich in freien Versen dahin und umspielt doch heimlich Metren, die der bekennenden Mündlichkeitsfetischistin und begnadeten Mnemotechnikerin Oswald die unvergleichliche Flüssigkeit ihres Vortrags ermöglichen – auch durch gezielte Wiederholungen von Strophen, die das erste Mal als sinnerfüllter Text, das zweite Mal als reiner Klang erstehen: „Like leaves / Sometimes they light their green flames / And are fed by the earth / And sometimes it snuffs them out“. – „Wie Blätter / Manchmal entflammen sie ihr grünes Licht / Von der Erde genährt / Und manchmal löscht sie sie aus“.

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