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SCHREIB Waren: Hölle im Zahn

Dass die unerforschtesten Kontinente doch immer irgendwie die eigenen sind, ist seit Sigmund Freud keine Überraschung mehr. Auch würde man meinen, dass es nach mehr als einem Jahrhundert Psychoanalyse in dieser Hinsicht keine großen Entdeckungen mehr zu machen gibt.

Dass die unerforschtesten Kontinente doch immer irgendwie die eigenen sind, ist seit Sigmund Freud keine Überraschung mehr. Auch würde man meinen, dass es nach mehr als einem Jahrhundert Psychoanalyse in dieser Hinsicht keine großen Entdeckungen mehr zu machen gibt. Weit gefehlt! In ihrem Buch „Das Orale“ erkunden Beate Slominski und Hartmut Böhme einen bislang unerforschten, ja noch nicht einmal als solchen erkannten dark continent: den Mundraum. Die Zahnärztin und Gründerin des Instituts „Wissenschaft und Kultur“ und der renommierte Kulturwissenschaftler versammeln medizinische, künstlerische, anthropologische, historische und linguistische Perspektiven, um Orales und Dentales zu beleuchten.

Allein das Organ-Ensemble – Zähne, Zunge, Rachen – macht deutlich, welche vielfältigen Dynamiken hier wurzeln. So können die Zähne nicht nur zum Ort grausamster Schmerzen avancieren – im Mittelalter treffend als „Hölle im Zahn“ dargestellt –, sondern werden als perlweiße Beißerchen auch zu Prestigeobjekten und damit zum Ausweis des sozialen Status’. Die Zunge wiederum ist nicht nur das Organ, das signalisiert, was uns schmeckt und nicht, sondern auch eines, mit dem wir anderen mitteilen können, was wir von ihnen halten: Zunge raus! Man denke nur an das berühmte Einstein-Bild.

Das Mundwerk arbeitet also in vielerlei Hinsicht unentwegt und wird dieses sicher auch am Donnerstag tun, wenn sich die Herausgeber mit Jürgen Trabant, Christopher Dell und Lothar Müller zum Podiumsgespräch mit anschließender Diskussion in der Buchhandlung Walther König versammeln (19 Uhr, Burgstraße 27).

Kunst und Medizin verbinden sich auch im Buch „Geschichten vom Sterben“. John von Düffel hat neues Gelände betreten und 12 Geschichten aufgeschrieben, die die Berliner Palliativ-Medizinerin Petra Anwar mit Todkranken erlebte. Die Ärztin betreut Sterbende in ihren eigenen vier Wänden und ermöglicht ihnen so ein Abschiednehmen im persönlichen Umfeld. Doch setzt sie auch letzte Wünsche in die Realität um, so etwa die Fahrt des Herrn Helling, der im Rollstuhl ans Meer reisen will, um ein letztes Mal die Leuchttürme zu sehen, oder auch die Heimreise von Herrn Bozkurt, der zum Sterben in seine kleine Stadt in der Türkei zurückkehren möchte.

Entstanden ist das Buchprojekt durchs Kino: In Andreas Dresens Film „Halt auf freier Strecke“, in dem es um die tödliche Erkrankung eines Familienvaters geht, hatte Anwar sich selbst gespielt. Der Piper-Verlag lud sie daraufhin ein, ihre Arbeit und Erlebnisse genauer zu schildern. Dieser Beruf, so Anwar in einem Interview, öffne den Blick für das Wesentliche. Da uns dieser gelegentlich abhanden kommt, begeben wir uns am Sonntag zum Babylon Mitte, wo zunächst Anwar, von Düffel und Milan Peschel, der im Film den tumorkranken Vater spielte, lesen und dann im Anschluss der Film gezeigt wird (16 Uhr, Rosa-Luxemburg-Str. 30).

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