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Košice leuchtet. Nächtlicher Blick über das historische Zentrum mit der Kathedrale Sankt Elisabeth und der Fußgängerzone Hlavná ulica. Foto: Jan-Peter Boening/Zenit/laif

© Jan-Peter Boening/Zenit/laif

Kultur: Schwimmbäder zu Kunsthallen

Die Zukunft den Kreativen: Das slowakische Košice wird neben Marseille Europas Kulturhauptstadt.

Von Bratislava nach Wien sind es nur anderthalb Stunden, Bratislava sei eine fast europäische Stadt, urteilte der Schriftsteller Ilja Ehrenburg 1929 in seinen Reiseskizzen aus der Slowakei. Für das im Osten gelegene Košice hingegen fand er wenig schmeichelhafte Worte: „Dem Äußeren nach hat Košice Ähnlichkeit mit einer Durchschnittsgouvernementsstadt des mittleren Russland.“ Doch ausgerechnet Košice/Kaschau, die zweitgrößte Stadt der Slowakei, wird sich 2013 mit dem südfranzösischen Marseille den begehrten Titel der europäischen Kulturhauptstadt teilen.

Der Charme der 250 000 Einwohner zählenden Metropole erschließt sich auch heute erst auf den zweiten Blick. Ein breiter Gürtel von Plattenbauvierteln umgibt die Innenstadt, stereotype Einkaufszentren säumen die Zufahrtsstraßen – die postsozialistische Silhouette wirkt wenig anziehend. Die Altstadt mit ihren schmalen Gassen, den Bürgerhäusern und Adelspalästen aus der Zeit der österreichisch-ungarischen Monarchie macht jedoch einen beschaulichen Eindruck. Das Zentrum bildet ein linsenförmiger Platz, umschlossen von der Hlavná ulica, der alten Hauptstraße, die heute Fußgängerzone ist. In den Cafés, Restaurants und Geschäften herrscht reges Treiben, zwischen den zwei- und dreigeschossigen Bauten mit ihren pastellfarbenen Fassaden öffnen sich immer wieder Durchgänge, die den Blick auf malerische, von Laubengängen gesäumte Hinterhöfe freigeben.

Die Elisabethkathedrale am südlichen Rand des Platzes ist eingerüstet, im Innern der fünfschiffigen Kirche sind Handwerker am Werk. Die Kathedrale im hochgotischen Stil, mit prächtigen Portalen und kostbarer Innenausstattung, kündet von der Bedeutung der Stadt als einem im Mittelalter wichtigen Handelszentrum zwischen Ost und West. Stadtführerin Danica Remetei: „Der Košicer Dom ist die östlichste gotische Kathedrale in Europa, das heißt, Košice ist auch eine geistliche Grenze des alten Europa.“

100 Kilometer weiter östlich liegt die Ukraine – hier verläuft heute die Schengen-Grenze des neuen Europa. Košice liegt im Dreiländereck zwischen Polen, der Ukraine und Ungarn. Diese Lage war für die argentinische Künstlerin Julia Mensch Motivation, sich für das „artists in residence“-Programm zu bewerben, mit dem Košice seine junge Kunstszene beleben und international vernetzen will: „Dies ist eine Chance, näher an Osteuropa heranzukommen. In meinem Projekt geht es um die Ukraine, mein Großvater stammt von dort.“ Die Künstlerin hat sich auf familiäre Spurensuche im Grenzgebiet begeben und zeigt ihre Fotoarbeit in einer ehemaligen Tabakfabrik am Rande der Altstadt. „Diese alte Tabakfabrik ist wirklich ein riesiges Gelände mit vielen Möglichkeiten“, schwärmt Olivier Leric, Kurator des Residenzprogramms Košice 2013, „ der Ort sieht ziemlich heruntergekommen aus, aber dies wird einer der angesagtesten Adressen in Košice werden.“ Schon jetzt haben sich hier Designer und Galeristen niedergelassen.

Košice, im Sozialismus zur Industriestadt gewachsen, setzt für die Zukunft auf die jungen Kreativen – die Stadt wirbt damit, dass die Familie der amerikanischen Popikone Andy Warhol aus der Region stammt. Ein Schwimmbad aus der sozialistischen Ära wird zur neuen Kunsthalle umgebaut, auf einem ehemaligen Kasernengelände südlich der Altstadt drehen sich die Baukräne, hier soll ein großer Kulturpark entstehen.

„Kaschau war eine europäische Stadt“, schrieb der Autor Sándor Márai über seine Geburtsstadt Košice/Kaschau, in der Deutsche, Juden, Ungarn und Slowaken miteinander lebten. In Romanen und Theaterstücken setzte er ihr ein literarisches Denkmal. Im Sozialismus wurde Márai totgeschwiegen, erst in jüngster Zeit erlangte er als „ungarischer Kafka“ neuen Ruhm. Im Kulturstadtjahr können Besucher auf den Spuren seiner Lebensstationen in Košice wandeln, das kleine Museum im Wohnhaus der Familie wurde umgestaltet.

Auch die jüdische Geschichte der Stadt, die bis 1990 keine Rolle spielte, rückt wieder in den Blick. In der Glockengasse, der Zvonarská ulica steht die älteste der drei Synagogen von Košice. Die Fassade des 1883 errichteten Gebäudes ist frisch gestrichen, innen sieht es trostlos aus, jahrzehntelang diente das Gotteshaus als Lagerhalle. Bunte Glasfenster und die verblichenen Spuren der Ausmalung im maurischen Stil zeugen von der einst reichen Innengestaltung, doch aus eigenen Mitteln kann die kleine Gemeinde das Haus nicht restaurieren. Das Kulturhaupstadtjahr lässt hoffen: „Wir wollen im Erdgeschoss eine Galerie der ermordeten Künstler einrichten“, berichtet Peter Neuwirth, verantwortlich für das Projekt „Pentapolitana“ von Košice 2013, „im Obergeschoss wird ein Holocaust-Museum entstehen. Wir suchen Mittel für die Rekonstruktion.“ Schließlich war Košice vor dem Holocaust eine jüdisch geprägte Stadt: „Das war hier ein jüdischer Stadtteil“, erzählt Jana Tesserova, deren Eltern zu den wenigen Juden gehörten, die im Versteck überlebten, „fast ein Viertel der Bevölkerung von Košice waren Juden“.

Multikulturell ist auch die Theaterszene in Košice mit einer slowakischen und einer ungarischen Bühne. Auch die Roma, die zweitgrößte Minderheit in der Slowakei, betreiben seit 20 Jahren ein eigenes Theater, das einzige Roma-Theater in Europa. Auf dem Spielplan stehen sozialkritische Stücke neben Komödien, die Bühnensprache ist Romani mit direkter Übersetzung. „Die Zielgruppe sind Roma, aber eigentlich spielen wir mehr für Nichtroma, weil die sich eher den Eintritt leisten können“, erklärt Intendant Karol Adam. Das Theater will die Kultur der Roma bewahren, aber auch Vorurteile auf beiden Seiten abbauen. „Ein Nebeneffekt ist vielleicht, dass wir das Selbstbewusstsein der Roma erhöhen“, glaubt der Theaterchef. 2013 wird das „Romathan-Theater“ zu Gastspielen in die französische Partnerkulturhauptstadt Marseille reisen.

Gerade an den Roma wird sich jedoch zeigen, wie ernst es Košice mit dem Bekenntnis zu seiner multikulturellen Identität ist: Am Stadtrand, in einem Plattenbaughetto, weit entfernt vom kulturellen Zentrum, leben Tausende ohne Heizung, Strom und Wasser. „Man muss im Auge behalten, dass die Slowakei kein Kongo ist, nein, sie liegt im Mittelpunkt Europas“, bemerkte Ilja Ehrenburg in seinen Reisebildern von 1929. Wer die skandalösen Zustände in dem Roma-Ghetto „Lunik 9“ erlebt hat, fühlt sich dem Kongo näher als einer europäischen Kulturhauptstadt.

Sigrid Hoff

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