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Schwäbischer Zungenschlag. Die Büchner-Preisträgerin Sibylle Lewitscharoff im Stuttgarter Literaturhaus.

© imago/PPfotodesign

Sibylle Lewitscharoff und "Das Pfingstwunder": Lachen in Liebesglut

Hommage an Dantes „Göttliche Komödie“: Sibylle Lewitscharoffs Roman „Das Pfingstwunder“.

Im entscheidenden Moment dröhnen die Glocken. Der Petersdom in Rom läutet das Pfingstfest 2013 ein. Die Glocken durchläuten auch den neuen Roman von Sibylle Lewitscharoff, als dramatisch erhebende Begleitmusik für das im Titel versprochene „Pfingstwunder“. Denn die Ereignishaftigkeit muss mit einigem Theaterdonner und feierlichem Trommelwirbel hergestellt werden. 34 Dante-Forscher aus aller Welt sind in Rom zu einem Kongress über die „Göttliche Komödie“ zusammengekommen.

Brav haben sie sich mehrere Tage lang von Vortrag zu Vortrag vorangearbeitet. Das geht ganz gut auf, weil das „Inferno“ aus 33 plus einem prologartigen Kapitel besteht, und sich damit – vielleicht aus Sauerstoffmangel? – in einen Zustand des höheren Delirierens hineinkapriziert, der sie schließlich zur kollektiven Himmelfahrt befähigt. Ein Wunder! Die Glocken läuten, während einer nach dem anderen sowie ein schlauer Hund und drei Hausangestellte das Fensterbrett besteigen und wie eine Weltraumrakete senkrecht nach oben verschwinden.

Vom Inferno übers Purgatorio ins Paradiso? Man weiß es nicht. Der Einzige, der zurückbleibt, weiß es auch nicht, genauso wenig wie er begreift, warum er nicht ebenfalls gen Himmel fahren durfte. Das ist der 62-jährige Ich-Erzähler, Professor Gottlieb Elsheimer. Um das Mysterium zu fassen und seiner Verstörung Herr zu werden, lässt er den Kongress, Vortrag für Vortrag, Revue passieren. Ein Kongress ist nun aber nicht gerade aufregender Romanstoff, auch dann nicht, wenn die einzelnen Vortragenden mit ihren unterschiedlichen Temperamenten und liebenswerten Schrulligkeiten vorgestellt werden.

Das erinnert in der Behäbigkeit des Geschehens an Grass’ „Treffen in Telgte“, eine der langweiligsten und überschätztesten Erzählungen der deutschen Literatur. Der Ich-Erzähler neigt zu Geschwätzigkeit und Abschweifungen, sodass man auch noch etwas über seine alte Mutter erfahren muss, was, wie er selber weiß, nun wirklich nicht zur Sache gehört. Ein Roman aber will trotzdem nicht daraus werden, und auch Elsheimer schwant schließlich auf Seite 231, dass er nichts als eine „tumbe Nacherzählung“ bietet, „als müsste ich sechzehnjährigen Gymnasiasten beibringen, wovon in der Commedia die Rede ist.“ Dann macht er aber trotzdem genau so weiter.

Wie die Autorin stammt auch ihr Professor aus Stuttgart-Sillenbuch und schwäbelt sich durch seinen Text. Er lebt zwar in Frankfurt und besucht in Sachenhausen eine Pizzeria, ansonsten sitzt er meist zu Hause, schaut sich in der Nacht Fernsehserien an, vergisst sich zu waschen. Aber das tut ebenso wenig zur Sache wie all die anderen drum herum gestrickten Äußerlichkeiten. Sein Vokabular ist angemessen altherrenhaft; jüngere Menschen sind „junges Gemüse“ oder eine „Bubenbande“, da wird „gekichert“ im Saal und „mit dem Fingerchen gedroht“.

Dennoch hört man durch diese biedere Verschmocktheit immer auch die Autorin durch, denn sie ist es, die das dünne Geschehen mit ihrer Dante-Leidenschaft in Gang gesetzt hat und es nun romanhaft bewirtschaften muss – nicht ganz anders als in ihrem vorherigen Roman „Blumenberg“, in dem sie dem Münsteraner Philosophen Hans Blumenberg huldigte. Im Fall Dantes ist das schwer, zu schwer. Die ausgesuchte Umstandskrämerei des Erzählers, der nichts ist als eine sprechende Handpuppe, rettet nichts, sondern macht es nur noch schlimmer. Hätte Lewitscharoff einfach ein Sachbuch geschrieben, dann wäre es eine wunderbare, leidenschaftliche Einführung in die „Commedia“ und eine Liebeserklärung an Dante geworden. Und in der Tat: Nichts anderes will dieses Buch. Wer sich für Übersetzungsnuancen und Interpretationsmöglichkeiten und historische Hintergründe interessiert, ist damit gut bedient. Was zur Erörterung gelangt , ist hochinteressanter Stoff: Es geht nicht nur um theologische Grundfragen und die Ordnung von Himmel und Hölle, um Schuld und Verdammnis und Gerechtigkeit (die es in Dantes Hölle so wenig gibt wie auf Erden), sondern um das Problem des Realismus und damit das der Leiblichkeit: Wie verhält es sich, wenn Dante mit all den körperlosen Schatten im Inferno einen durchaus körperlichen Umgang hat, sie untertaucht oder einem ein ganzes Büschel Haar ausreißt.

Was der Leib plant und der Gedanke will

Und wie ist es umgekehrt mit der Körperlichkeit der zum Himmel fahrenden Danteforscher, was doch die Naturgesetzlichkeit einigermaßen außer Kraft setzt? Da seufzt der zurückbleibende Erzähler dann: „Wer ist schon darauf vorbereitet, dass sein Leib anderes mit ihm plant, als es der Gedanke will?“

Vielleicht besteht das Elend dieses Mannes (der auch noch zusehen muss, wie seine frühere Geliebte aus Studententagen, eine Danteforscherin mit dem Namen – ausgerechnet – Eva, ihm nach oben entschwebt) ja vor allem darin, dass er zu viel denkt und viel zu viel quatscht: So kommt man halt nicht ins Paradies.

Am Ende scheint diese Einsicht in den Gesängen der Himmelfahrer auf wie ein göttlicher Choral, in dem es dantegemäß heißt: „Wie schwach das Wort! / Wie käm’s dem Denken nahe? / O ewig Licht, das in sich selber ruht, / und selber sich durchdringt und, so durchdrungen / und sich durchdringend, lacht in Liebesglut.“ Da gilt die Liebe dann nur noch dem reinen Licht, der absoluten Erkenntnis, die nicht mehr in Worte zu fassen ist.

Lewitscharoff weiß alles. Man kann hier viel lernen. Aber es steht halt auch alles anderswo in der Dante-Literatur. Was sie leistet, ist die Kompilation des derzeitigen Forschungsstandes unter einem bemüht literarischen Kleidchen. Man bekommt Lust, Dante zu lesen, aber das ist dann das Beste, was sich über diese Philologenprosa sagen lässt, die auf vampirische Weise von Dantes „Commedia“ lebt.

Sibylle Lewitscharoff: Das Pfingstwunder. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 350 Seiten, 24 €.

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