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Die virtuose Autorin beherrscht Jamben ebenso wie Bayrisch, Schlesisch oder Schwäbisch.

© Knaus Verlag

Thea Dorns Roman "Die Unglückseligen": Ritter, Tod und Teufel

Eine Neurobiologin begegnet einem 200 Jahre alten Physiker. Die Schriftstellerin Thea Dorn vereint in ihrem opulenten Roman „Die Unglückseligen“ moderne Naturwissenschaft und das Reich der Dämonen.

Das ist eine kühne Geschichte. Erst Girl meets boy, aber was so einfach erscheint, ist ganz schön vertrackt. Da gerät die in einem etwas abgelegenen, gleichwohl weltberühmten Institut an der amerikanischen Ostküste forschende deutsche Molekularbiologin Johanna Mawet früh abends im Supermarkt an einen irgendwie späthippiehaften Hilfsarbeiter. Dessen Missverständnis beim Eintüten der Waren hat allerhand Folgen – weil auch die eigene Hülle des Mannes, Haut und Haar, der hochrationalen Wissenschaftlerin auf den ersten Blick nicht geheuer ist. Sein Antlitz erscheint ihr wie einem Vexierbild entsprungen, und in Thea Dorns umfänglichem Roman mit dem genau genommen doppelsinnigen Titel „Die Unglückseligen“ heißt es zu Beginn sehr schön knapp: „Solche Gesichter wurden heutzutage nicht mehr gemacht.“

Kein Wunder. Denn in diesem sonderbar dürren, lockenmähnigen Mann im Hawaihemd mit seinem aus der Zeit gefallen Kopf wohnt nicht einfach nur ein Fremder. Auch kein Alien. Sondern ein fast Zweihundertfünfzigjähriger. John Knight, der Amerikanisch mit deutschem Akzent spricht und Deutsch mit einer nur fremd vertrauten Zunge, heißt eigentlich Johann Ritter. Er ist offenbar identisch mit dem 1776 in Schlesien geborenen und, so dachte man bisher, 1810 in München gestorbenen Physiker, Philosophen und Frühromantiker Johann Wilhelm Ritter. Den gab es wirklich, er hat mit Goethe und Herder, mit Schlegel und den Brentanos verkehrt und Anfang des 18. Jahrhunderts die UV-Strahlung entdeckt. Ritter experimentierte mit der Elektrizität und wurde so auch zum Erfinder des wohl ersten Akkus.

Der Plot ist ein Coup

Thea Dorn lässt ihn nun leibhaftig wieder auftreten. Nicht als Zombie, nicht als traditionellen Untoten, eher als: Unverstorbenen. Womöglich als Zell-Mutanten. Der Küstenort in den USA heißt übrigens Dark Harbor, was für Kinokenner noch eine Anspielung ist auf den vor zwei Jahrzehnten entstandenen amerikanischen Mystery-Thriller „Dark Harbour – Der Fremde am Weg“. Und weil Johanna dort mit Hilfe embryonaler Stammzellen den Tod bekämpfen und zumindest die biologische Alterung genetisch verlangsamen will, nimmt sie jenen Johann, den unsterblich alten Wissenschaftsbruder, als Verrücktheit und Verheißung auf. Nimmt ihn später auch mit zurück nach Deutschland, als Faktotum, Freund und Subjekt ihres zunächst rein forscherischen Begehrens.

In einer naturwissenschaftlich entzauberten Welt reizt diese Paarung und Polarität: zwischen biochemischer Zukunftsmusik und physikalischer Vergangenheitsaura. Ritter ist dabei eine wahre Entdeckung und der Plot ein Coup für eine so fabulöse Erzählerin wie Thea Dorn, deren Spektrum vom Hardcore-Krimi („Die Hirnkönigin“) bis zu philosophischen Exkursen reicht. Schon bei ihrem letzten Großwerk, der zusammen mit Richard Wagner verfassten essayistischen Anthologie „Die deutsche Seele“, war ja die Lust an der tatsächlich urdeutschen Romantik genauso unübersehbar wie das Verlustempfinden angesichts eines von Zweckrationalismus, Technologievergötzung oder denglischer Sprachverödung geprägten Zeitgeists.

Originell ist nun der Dorn'sche Grundeinfall: Das ewig Gestrige und das flüchtig Heutige wird nicht mehr im Nachhall von Karl Kraus, Robert Musil oder Thomas Mann einander kontrastiert als Konflikt zwischen Technik und Kultur, zwischen Kunst, Gesellschaft und Politik oder gar von Geschichtsutopie und Realitätszynismus. Es ist vielmehr ein Zeitspiel – unter Naturwissenschaftlern. Johann und Johanna, die eine heutig säkular und ungläubig, der andere aus der früheren Epoche noch religiös begabt. Aber die Spiritualität kommt gleichsam von hinten, von unten, auch aus den historischen Abgründen, die der durch Napoleonzeiten und Weltkriege getaumelte und schließlich vor dem Nationalsozialismus nach Amerika geflohene Herr Ritter durchlebt hat.

In der zweiten Romanhälfte beginnt die Reise in den Okkultismus

Denkt man. Doch Thea Dorns zweiter Grundeinfall bringt das spirituell Mythologische auch noch von ganz oben ins Spiel. Und das buchstäblich in Gestalt von Ritter, Tod und Teufel. Es wabert etwas Faustisches durch den großen, fast 600-seitigen Roman. Frau Dr. Mawet schickt, um dem Geheimnis von Johann Ritter auf die Spur zu kommen, erstmal DNA-Proben des bislang Unsterblichen in die Labore. Deren durchaus logische Ergebnisse wollen wir hier der Spannung halber nicht verraten. Aber weil das Rätsel bleibt und auch Johanns eigene Bekundung, seinen Tod infolge galvanischer Experimente am eigenen Leib mit frühen Elektroschocks und ähnlichem im Jahr 1810 nur vorgetäuscht zu haben, solch biblische Langlebigkeit nicht erklären kann, beginnt es in Johannas kühlem Hirn zu fiebern. Die an sich und der eigenen Wissenschaft lange nicht zweifelnde Molekularbiologin verfällt auf eine ganz andere, in der Realität eher ferner liegende, in der Literatur freilich vertraute Idee: Was, wenn das Ganze ein Teufelspakt wäre? Und der gottgläubige, sanftmütige Ritter insgeheim ein Höllenknecht.

So beginnt in der zweiten Romanhälfte eine Reise aus der Welt der DNA-Ketten in die Katakomben des Spuks. Dr. Mawet versucht sich als Gegenprobe im exorzistischen Okkultismus. Auch das geschieht noch in der neoromantischen Freiheit der Kunst, in der, wie Alfred Hitchcock einmal sagte, „die Wahrscheinlichkeit nicht ihr gemeines Haupt erheben“ soll. Schade nur, und das ist das Problem des Romans, dass Thea Dorn die in ihrem Sujet ohnehin schon angelegte, zum Reich der Science-Fiction gehörige Sphäre der Fantasy & Mythology sich nicht wie selbstverständlich und damit umso unheimlicher aus der Geschichte von innen her entwickeln lässt.

Selten hat eine deutsche Erzählung so viel gewagt

Stattdessen findet hier ein enormer motivisch-stilistischer und typographischer Aufwand statt. Immer wieder fällt sich die Autorin in ihrem schlanken plastischen Deutsch selber ins Wort, indem nicht nur Johann Ritter ein Gemisch aus Gegenwartsspache und spätbarock-frühromantischem Idiom im Mund führt. Vielmehr erhebt auch der Teufel als gefallener Engel das hochmächtige Wort, verbündet sich mit der auktorialen Erzählerin noch zu einer Art kommentierendem Über-Ich. Dazu gibt es für die Kapitelanfänge schöne jugendstilige Initial-Vignetten und seitenweise versal verstreute DNA-Code-Reihen, wir finden Comic-Sprechblasen, einen als Quasidokument kursiv eingeschobenen Brief aus dem 19. Jahrhundert und ein gefettetes Märchen von der „Kleinen Fledermaus“ als (merkwürdigerweise nicht-blindes) Wesen aus der okkulten Höhlenwelt. Und als weiteres Intermezzo hebt sich der Vorhang noch für ein Dramolett, in dem ein mit eher altfränkischer Ironie als „Hirnschmied“ bezeichneter Forscher die digitalen Transhumanisten preist, die alles menschliche Bewusstsein ganz körperlos downloaden möchten, um es in einer Cloud fürs ewige Leben zu deponieren.

Das alles wirkt wunderbar klug. Thea Dorn kann zudem Jamben und Bayerisch, Schwäbisch, Schlesisch und stellt an den – dann achselzuckenden – Leser auch vielerlei rhetorisch gedrechselte Fragen (über den träumenden Ritter: „Welch entsetzlich Gesicht glotzte da auf ihn herab?“). So freilich droht das polyphone Werk partienweise überschmückt und überinstrumentiert zu sein.

Andererseits: Seit Botho Strauß’ Roman „Der junge Mann“ (1984) hat kaum eine deutsche Erzählung so viel gewagt, so weit und riskant ausgegriffen. Vom Wachschlaf der Vernunft bis hin ins Mythische, Dämonische, ins ironisch und tragisch umspielte Pathos, das selbst „des Menschen Teufelsverlassenheit“ beklagt. Dabei steht der wohl entscheidende Satz auf Seite 503: „Ganz und gar verkehrte Welt, in der das Träumen begann, nachdem der Mensch erwacht!“

Eine opulente Bezauberung einer entzauberten Welt

Johann und Johanna als Gegensatzpaar verkörpern und versöhnen im starken Finale, das Thea Dorn mit Anklängen an Kleist’sche Töne erzählt, Physik und Metaphysik, Labor und Leben, das unsterblich sterbliche Dasein und Fortgehen. Fast glaubt man so im Subtext des Romans auch die Vision jener „Third Culture“ zu entdecken, die zwischen moderner Naturwissenschaft und traditioneller Geisteswissenschaft, welche mit ihren ethischen und ästhetischen Implikationen im Englischen „Humanities“ heißt, wieder ein gemeinsames Gespräch stiften will.

Thea Dorn versucht das hier, als opulente Bezauberung der entzauberten Welt.

Thea Dorn: Die Unglückseligen. Roman. Albrecht Knaus Verlag, München 2016, 555 Seiten, 24, 99 Euro

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