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Theater: Unsere Puppenheimer

Viel mehr Gegenwart geht nicht: Wunderwaffe gegen Neoliberalismus und Feminismus-Debatten. Der gute alte Henrik Ibsen boomt im deutschsprachigen Theater.

Eigentlich kann man mit Hedda ja über alles reden. Als ihr Ehemann, ein Kulturhistoriker, der auf den letzten Metern eine sicher geglaubte Professur zu verspielen droht, von zwischenzeitlichen Entbehrungen spricht, ist sie sogar bereit, auf ihre persönliche Pilates-Trainerin zu verzichten. Dass es allerdings auch mit dem versprochenen Haustier, einem Vollblut-Araber, noch ein paar Wochen dauern soll, nimmt sie dem Nerd-Brillenträger jetzt wirklich übel. Bockig wendet sich Hedda, die in Tilmann Köhlers Inszenierung am Staatsschauspiel Dresden Cowboystiefel zum Minikleid trägt, von ihrem Gatten ab und greift zum Joystick: Die Generalstochter, die so gern mit den Waffen ihres Vaters hantiert, vertieft sich in der aktualisierten Dresdner Fassung in virtuelle Killerspiele.

„Hedda Gabler“ ist nicht die einzige Figur aus dem literarischen Fundus Henrik Ibsens, die zurzeit auf der Bühne Anschluss an die Tagesaktualität sucht. Dabei geht es in der Regel um mehr als Lifestyle-Themen. In Graz werden mit dem Norweger aus dem 19. Jahrhundert neoliberale Arbeits- und Eheverträge durchleuchtet, in Bonn migrantische Lebensentwürfe hinterfragt und in Berlin die Terrorakte Anders Breiviks thematisiert. Ibsen scheint seinen russischen Kollegen Tschechow als Diskurs-Dramatiker der Stunde abzulösen.

Die elegisch in der Stagnation festhockenden Wanjas oder folgenlos von Aufbrüchen schwadronierenden „Drei Schwestern“ weichen zusehends Herdprämiengegnerinnen wie Nora und Ex-Bankern wie John Gabriel Borkman, der im großen Stil seine Kunden ruiniert hat. Es ist kein Zufall, dass Ibsen auch beim diesjährigen Berliner Theatertreffen doppelt vertreten ist. Es ist nach Thomas Ostermeiers Frauenpassionen „Nora“ (2002) und „Hedda Gabler“ (2005) an der Schaubühne wieder eine mächtige Ibsen-Welle zu verzeichnen.

Dass allerdings einem Pastor Manders im Enthüllungsthriller „Gespenster“ nach wie vor die Schamesröte ins Gesicht steigt, wenn er von den Fremdgängen des honorigen Kammerherrn Alving erfährt, hat Seltenheitswert – zumindest bei Regisseuren diesseits der Fünfzig. Im Übrigen ist David Böschs Inszenierung am Wiener Akademietheater auch weit und breit die einzige, in der ironiefrei Regentropfen vom Schnürboden prasseln, als der Kammerherrensohn Osvald und seine Geliebte Regine hören, dass sie Halbgeschwister sind. In Zeiten, in denen sogar Frauenzeitschriften ihren Leserinnen Fremdgänge ans Herz legen und Geschwister für ihr Recht auf gemeinsamen Sex vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ziehen, findet das Gros der Regisseure Ibsens Aktualität anderswo.

David Böschs 32-jähriger Kollege Robert Borgmann beispielsweise nimmt die „Gespenster“ – ins Unbewusste abgedrängte Zombies, die immer wieder ihre Sargdeckel öffnen, um die Zeitgenossen am Leben zu hindern – im Centraltheater Leipzig zum Anlass, der Gesellschaft einen geschichtsvergessenen Wiederholungszwang zu attestieren. Borgmann schraubt Ibsens berühmte analytische Enthüllungsdramaturgie komplett auseinander und beginnt mitten im Stück, als alle Alving’schen Fremdgehmessen längst gesungen sind. Der erste Akt, in dem die Büchse der Pandora zwar schon unheilvoll auf dem Küchentisch liegt, aber noch verschlossen bleibt, ist in Leipzig der letzte. Jeder weiß also längst Bescheid, und alles beginnt von vorn: Hier stehen wir und können nicht anders, rufen die Leipziger „Gespenster“, mit schwerem theoretischen Rüstzeug von Jacques Derrida bis Slavoj Žižek im Gepäck.

Ob das wirklich in jeder Szene en detail überzeugt, sei dahingestellt. Fakt aber ist, dass man dem Naturalisten Ibsens jenseits realistischer Zugriffe Anregendes abgewinnt. Herbert Fritsch hat das mit seiner Oberhausener „Nora“, die letztes Jahr beim Theatertreffen zu sehen war, exemplarisch vorgemacht. „Danke, emanzipiert sind wir selber“: In Fritschs Lesart des verdienstvollen, mittlerweile aber auch schon 133 Jahre alten Frauenversteher-Klassikers nahm die koboldhafte Postfeministin Nora diesen Leitsatz unserer Familienministerin vorweg, erwies sich dabei allerdings als die wesentlich bessere Entertainerin. Zudem ist zu befürchten, dass Fritschs raffinierte Materialistin auch nicht zwingend per Flexiquote in die Chefetage wollte, wohl aber an die Geldscheine in den Altmännerhänden, die zittrig an ihrem Babydoll-Kleidchen herumfingerten. Was Fritsch da zeigte, war weder frauen- noch männerfreundlich, sondern siedelte weit unterhalb jeden politisch korrekten Bewusstseins – im Albtraumkeller der ungefilterten, spekulativen Begierden.

Was Wunder, dass das Ibsen-Drama als Typenfarce seither auf dem Vormarsch ist. „Es ist nicht mehr der Mensch, der handelt, sondern das Milieu.“ Diesen Satz, den Brecht in seinen Ausführungen „Über eine nicht-aristotelische Dramatik“ zu Ibsen festhielt, nehmen sich einige zeitgeistige Regisseure allerdings allzu sehr zu Herzen. Am Schauspielhaus Graz erzählt der 1972 in Warschau geborene Regisseur und ehemalige Castorf-Assistent Wojtek Klemm zum Beispiel „Nora“ als sarkastische Lehrfarce über „die Ökonomisierung zwischenmenschlicher Beziehungen“.

Als die Titelheldin zu Beginn ihren peinlichen Gatten nachäfft, der zwar in der ehelichen Kosenamenpoesie permanent mit unglücklichen Tiermetaphern danebengreift, dafür aber gerade zum Bankdirektor aufgestiegen ist, weiß man sofort, was die Stunde geschlagen hat. Die überlebensgroßen Geschenkkartons, mit denen das Personal – immer fest an der Angel von Konsum und Neoliberalismus – abendfüllend herumzappelt, wären nicht mehr nötig gewesen.

Klemm hat jede menschliche Motivation konsequent gekappt: Der Jurist Krogstad, der Nora bei Ibsen auch aus Angst um seinen Job und das Ansehen seiner Familie erpresst, braucht seine miesen Praktiken hier mit keinem Wort mehr zu rechtfertigen. Derart auf stereotype Funktionsträger zurechtgestutzt, bekommen Klemms Akteure bekommen zusehends Plausibilitätsprobleme. Denn sie haben die psychologischen Motivationen, die das Stück eigentlich tragen, längst hinter sich gelassen.

Interessanter sind da Versuche wie Armin Petras’ Finanzkrisen-Beitrag „John Gabriel Borkman“ an den Münchner Kammerspielen. Zwar stecken der joviale ehemalige Bankdirektor, seine Frau Gunhild und seine Ex-Geliebte Ella auch dort in milieuspezifischen Klischees fest. Olaf Altmann hat das Borkman’sche Heim als eine Art Nagerbau aus tunnelartigen, schrägen Gängen entworfen, in dem die Schauspieler sich entweder gebückt fortbewegen oder sich, wenn sie mal eine Art Aussichtsplattform zum Luftholen erreicht haben, wegen akuter Absturzgefahr anseilen müssen. Aber innerhalb dieser eng gesteckten Witzfigurengrenzen finden sie zu überraschend gegenwärtigen Personenprofilen. Borkman besticht durch ein ähnlich robustes Unrechtsbewusstsein wie unlängst Christian Wulff, schwingt dabei allerdings mit einem derart unverschämten Charme an der neoliberalen Leine, dass man ihm mit hoher Wahrscheinlichkeit selbst auf den Leim gehen würde.

Kurzum: Auf stimmige Typenkomödien stößt man durchaus, wenn man dieser Tage in der Ibsen-Spur durch den deutschsprachigen Theaterraum reist. Originelle Lesarten, die den alten Norweger wirklich neu für unsere Gegenwart aufschließen, sind dagegen selten. Zwei dieser Überraschungen gibt es nächsten Monat beim Theatertreffen zu sehen. Vegard Vinges und Ida Müllers „Borkman“-Marathon im Prater der Volksbühne (Tagesspiegel vom 4. 2.) nimmt die fragwürdigen Gesellschaftsentwürfe, von denen der Ex-Banker in seinem Kabüffchen schwadroniert, zum Anlass für eine performative Auseinandersetzung mit Gewaltfantasien des 20. und 21. Jahrhunderts und landet dabei so konsequent und angemessen schwer erträglich bei Anders Breivik, wie man Ibsen möglicherweise noch nie gesehen hat.

Der zweite Ibsen beim Theatertreffen kommt aus Bonn, wo sich Lukas Langhoff den Badearzt Dr. Stockmann vorgenommen hat. Der Clou in Langhoffs Inszenierung besteht darin, den „Volksfeind“ als dunkelhäutigen Migranten zu besetzen und eine präzise Dialektik zwischen Exklusionsmechanismen der Mehrheitsgesellschaft auf der einen und Selbstausschlusshandlungen auf der anderen Seite herauszuarbeiten. Viel mehr Gegenwart geht eigentlich nicht.

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