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Diktatur der Uhr. In der Kammeroper „Refuse the Hour“ von William Kentridge (r.) widersetzt sich ein afrikanisches Ensemble westlichen Zeitvorstellungen.

© Bresadola/drama-berlin.de

Theaterfestival in Avignon: Das zerbrochene Stundenglas

Das Theaterfestival von Avignon ringt um Realismus – und entlarvt, wie Medien Wirklichkeit erfinden. Eine Bilanz der ersten Tage.

Am Ende bröckelt die gewaltige mittelalterliche Fassade des Papstpalastes und gibt den Blick auf den Nachthimmel frei. Mit einer opulenten Videoprojektion beendet Simon McBurney seine Romanadaption „The Master and Margarita“ nach Bulgakow, die in Avignon für den Papstpalast optisch neu getrimmt wurde. In der hübschen Theatermaschinerie aus Videoprojektion, Toneffekten und Beleuchtungstricks müssen die Schauspieler genau getimte Gesten, Gänge und Intonationen abrufen, ein sehr technisches Spiel im Dienste einer großen, dreistündigen Effektmaschine. Das Theater der großen Formate erstarrt in Avignon schon seit Jahren immer wieder im Überwältigungsgestus. Das Festival, das am 7. Juli begann und bis zum 28. Juli dauert, hat dabei mit Simon McBurney als Artiste Associé einen deutlichen britischen Schwerpunkt in einem sehr internationalen Programm.

Für eine Überraschung sorgte in den ersten Tagen eine kleine Arbeit des Beiruter Performancekünstlerduos Lina Sanee und Rabih Mroué, das den Selbstmord des libanesischen Menchenrechtsaktivisten Diyaa Yamout thematisiert. Jacques Brels „Le dernier repas“ tönt aus den Lautsprechern, dann läuft die Nadel in die Auslaufrille und knackt rhythmisch vor sich hin. Der Computerbildschirm flammt mit einem Facebook-Kommentar auf, das Smartphone klingelt. Auch der Anrufbeantworter meldet sich: Eine Freundin bittet um die Annahme des Gesprächs. Aber Diyaa Yamout hat sich umgebracht. Alles, was wir sehen, sind seine Kommunikations- und Medientechniken: Fernseher, Computer, Smartphone. Ein Heer digitaler Maschinen um einen abwesenden User. Und nichts ist spannender als die Abwesenheit, als Fragen, die ohne Antwort bleiben. Aus den Facebook-Kommentaren erfahren wir Anteilnahme und Ablehnung der Tat aus religiösen Gründen, andere sehen sie als Fanal für eine libanesische Befreiungsbewegung in der Tradition des Selbstmordes des Tunesiers Mohammed Bouazizi, mit dem der Arabische Frühling begann. Das Fernsehen schaltet sich mit einer Reportage und später auch einer Talkshow ein und entfacht seinerseits den Shitstorm in der Facebook-Community. Wir erleben am konkreten Beispiel in allen Details die Anatomie medialer Entrüstungsrituale, den Kampf des neuen mit dem alten Medium, den Streit um die Deutungshoheit.

Diese kluge Performance führt aus der Logik der öffentlichen Debatten und ihrer wohlfeilen Begründungszusammenhänge in das private Geheimnis. Für Diyaa war das Leben selbst ein unerträgliches Gefängnis. Auch wollte er jenseits religiöser Regeln eingeäschert werden, seine Asche sollte irgendwo verstreut werden. Aber seinem letzten Wunsch haben seine Eltern nicht entsprochen, aus gesellschaftlichen Rücksichten. Zu sehen ist, im politisch erhitzten Geschwätz der Welt, eine persönliche Tragödie. „Schleep well Diyaa“ postet ein Mann namens Nour zum Schluss, das Bild löst sich vom Desktop des Computers und fährt immer näher auf das Logo neben dem Namen des Absenders, statt eines Fotos ist das hier ein schwarzes Rechteck. Und Nour heißt auf Arabisch: Licht. Auf dem Fernseher in Schwarz-Weiß: ein herzzerreißender „Summertime“ mit Janis Joplin. Auch ein früher Tod. Medien führen nicht aus dem Gefängnis Identität, aber sie sorgen für Unsterblichkeit.

Wie Lina Saneh und Rabih Mroué ist auch der südafrikanische Künstler William Kentridge bei der Kasseler Documenta und in Avignon zugleich präsent. Metronome klacken, bizarre Holzskulpturen recken ihre beweglichen Gliedmaßen in die Luft. Die Kammeroper „Refuse the Hour“ funktioniert wie die persönliche, autobiografisch beeinflusste Ergänzung zu Kentridges Kasseler Installation „The Refusal of Time“. Der Künstler bleibt während der Aufführung das Zentrum des Geschehens und motiviert seine Meditationen über Takt, Zeit, Raum und Schicksal mit einer Erinnerung aus seiner Kindheit. Da las sein Vater ihm auf einer Zugfahrt die Geschichte von Perseus und dessen Großvater Akrisios vor, die Geschichte eines Orakelspruches und einer fatalen Verkettung, die mit der versehentlichen Tötung des Großvaters endet. Der Achtjährige wollte die Serie falscher Entscheidungen, die in den tragischen Tod münden, und den Zeitstrahl des Schicksals nicht akzeptieren.

Kentridge lässt zwei Welten in der Aufführung aufeinanderstoßen: die westliche Organisation der Zeit und der unwillkürliche afrikanische Widerstand gegen eine als Kolonialismus verstandene Taktung von Sekunden, Minuten, Stunden, Tagen, Monaten und Jahren. Es geht darum, der Logik zu entkommen, die von der Ordnung in die Unordnung führt und vom Leben in den Tod. Für Kentridge ist diese Umwandlung die physikalische Dimension der Tragödie, die den griechischen Mythos umtreibt. In kosmischem Maßstab sind es, wie der Künstler im weißen Sommerhemd mit seinem Monokel erklärt, die schwarzen Löcher, die Licht, Geschichte und Leben letztlich in sich aufsaugen und mit ihnen natürlich auch alle westlichen Techniken der Zeitmessung. Dann übernimmt der afrikanische Teil des Ensembles die Geschicke auf der Bühne. Die als Errungenschaft der Moderne gefeierte Synchronisation von Uhren, Ablauf, Mechanik hat ausgedient.

Das französische Theater präsentiert sich zum Auftakt mit sehr unterschiedlichen Ansätzen. Christoph Honoré liefert einen Abend voller frivoler Albernheiten, in dem Autoren des „Nouveau Roman“ zu Figuren einer vulgären Show gemacht werden, ein Tiefschlag, ein Kulturfoul schlimmster Sorte. Séverine Chavrier kollagiert in „Plage Ultime“ Bilder, Musiken und unverbundene Aktionen zu einem uninspirierenden Kaleidoskop rund um Themen von James Graham Ballard. Stéphan Braunschweig, Garant für textbasiertes Schauspielertheater, hat Pirandellos „Sechs Personen suchen einen Autor“ behutsam aktualisiert und streift in seiner wie gewohnt optisch abgeklärten Bühne die Frage nach dem künstlichen Ich in den neuen sozialen digitalen Netzwerken. Wo sich Pirandello gegen das Illusionstheater seiner Zeit wandte und die Frage nach der Darstellbarkeit des wahren individuell erlebten Leids auf einer Theaterbühne stellte, ermöglicht Facebook seinen Usern, selbst zu Schneidern eines Rollenkleides zu werden. Sie fertigen sich die Maske, hinter der sie auf einem neuen Markt der Illusionen auftreten können. „Le Réel, invité d'honneur du Festival“ – „Die Wirklichkeit, der Ehrengast des Festivals“ titelte „Le Monde“. Das stimmt schon. Aber die klugen Arbeiten untersuchen vor allem die Kulturtechniken, die von sich behaupten, Wirklichkeit zu fassen.

Eberhard Spreng

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