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Schmerz und Trauer, die Musik ihrer Texte: Sarah Kane (1971 - 1999).

© ullstein bild

Theatertreffen 2012: Sarah Kane: Endspiele zur Eröffnung

Die Stücke der britischen Dramatikerin Sarah Kane waren fast von der Bühne verschwunden. Wie viel Wucht und Schmerz in ihnen steckt, zeigen die Münchner Kammerspiele in Johan Simons’ Trilogie „Gesäubert / Gier / 4.48 Psychose“, die das Berliner Theatertreffen 2012 eröffnen.

„Du musst in der Fantasie zur Hölle fahren, damit du nicht in der Wirklichkeit dort endest.“ Ein leuchtendes Überlebensmotto für Künstler, die das Wüten der ganzen Welt nicht aus dem Kopf bekommen. Aber traurige Wahrheit ist, dass Sarah Kane, von der dieser Satz stammt, auf Erden und im Theater nicht zu helfen war. Mit 28 Jahren erhängte sich die britische Dramatikerin in einer Londoner Klinik, in die sie zuvor mit einer Schlaftablettenvergiftung eingeliefert worden war. So musste es ja enden, sagten alle, die in ihren Stücken nur brutale Hoffnungslosigkeit sehen wollten. Und nicht die poetische Kraft und den Liebesfuror.

Das Missverständnis begann schon bei ihrem Debüt „Zerbombt“, das 1995 am Royal Court Theatre einschlug. Das Stück schloss eine Vergewaltigung in einem Hotelzimmer in Leeds mit den Gräueln des Bürgerkriegs in Bosnien kurz und gipfelte in einem wüsten Grand Guignol der blutigen Tränen und aufgefressenen Babys. Publikum und Boulevard reagierten entsprechend empörungsbereit. „Wir brauchen wieder eine Zensur“, soll einer nach der Premiere gerufen haben. „Als sei ihr Theater zum Kotzen und nicht die Welt“, schrieb der Kritiker Urs Jenny im Nachruf auf Sarah Kane. Mit 23 war sie schlagartig berühmt, um den hohen Preis des Skandals.

Ein Triptychon der Entgrenzung

Es ist, abgesehen von René Pollesch, kein lebender Dramatiker auf dem diesjährigen Theatertreffen vertreten. Das Festival hält wie eh und je die Gedenkmesse für Tschechow und Shakespeare ab, kein Gegenwärtiger ist in Sicht, der sich aufdrängen würde. Aber zu bestaunen ist die Wiederauferstehung der Sarah Kane.

Johan Simons, der Intendant der Münchner Kammerspiele, hat aus dreien ihrer fünf Stücke ein Triptychon der Entgrenzung komponiert: „Gesäubert / Gier / 4.48 Psychose“. Es sind die letzten Werke und Worte der Dichterin aus Essex, und Regisseur Simons glückt es, sie wie nie gehört klingen zu lassen. Sein Abend ist ein Requiem ohne Pathos, ein Passionsspiel ohne Weihrauch. Eine Feier der lichten Sprachgewalt, so musikalisch wie markerschütternd. Eine massive und würdige Eröffnung des Theatertreffens im Festspielhaus.

In Deutschland fiel der frühe Erfolg von Sarah Kanes Stücken zusammen mit der Britpop-Welle des In-Yer-Face-Theatres, dieser rotzigen Radikal-Dramatik im Stile von Mark Ravenhills „Shoppen & Ficken“. Bloß dass Kane den Hype überdauerte, weil ihr Theater eins der Herzschläge ist, nicht der Fausthiebe. Man verstand hierzulande, dass hinter der grellen Härte der Schmerz steht, nicht der Schockwille. Verdient gemacht um Kanes Nachtlyrik hat sich besonders Thomas Ostermeier, der an der Baracke des Deutschen Theaters und später an der Schaubühne alle ihre Stücke aufführen ließ. Nach Kanes Suizid 1999 wurde republikweit vor allem das nachgelassene „4.48 Psychose“ viel gespielt. In jüngster Zeit verschwand sie weitgehend von den Spielplänen.

Love me or kill me

Johan Simons’ Inszenierung beginnt mit „Gesäubert“ in jeder Hinsicht grausam. Man hat noch die Bilder aus dem Schlachthaus vor Augen, das Peter Zadek für seine deutschsprachige Erstaufführung des Stoffes 1998 an den Hamburger Kammerspielen bauen ließ. Für ein Schauerstück über die bedingungslose Liebesgier und ihr Scheitern, über das Verlangen, sich im anderen aufzulösen und die bittere Erkenntnis, schon mit sich selbst nicht eins werden zu können. Kane beschreibt den Zustand dieses Identitätsverlusts als Folter an Leib und Seele. Tinker, eine Mischung aus Dealer und KZ-Arzt, treibt in „Gesäubert“ seine Experimente mit einer verlorenen Schar von Sehnsüchtigen. Er löscht die Liebe aus, wo sie sich zeigt. Den jungen Carl, der seinem älteren Lover Rod ewige Treue schwört, nötigt er zum Verrat und schneidet ihm hernach die Zunge ab, weitere Körperteile folgen. Doch am Ende erlebt ausgerechnet dieser Kerkermeister Tinker einen utopischen Moment großer Zärtlichkeit.

Peter Zadek tat dem Text seinerzeit die Gewalt an, ihn so wörtlich zu nehmen, wie er nie gemeint war. Da wurden im grün gekachelten Bestiarium die Gummi-Gliedmaßen abgetrennt, eine Sonnenblume brach tatsächlich durch den Boden, weil Kane das in ihren Regieanweisungen geschrieben hatte. Kein Raum für Fantasie, nur Beklemmung.

Bei Simons wird Tinker von Annette Paulmann gespielt, die wie ein grotesker Pumuckl kostümiert ist und ihre Mitspieler mehr piesackt als peinigt. Ein ungestümes Balgen mit den knappen Sätzen beginnt, auf Drehstühlen unter überdimensionierten Lampions, die Bühnenbildnerin Eva Veronica Born aufgehängt hat. „Wir zeigen, wie Kinder sich Gewalt vorstellen und sie nachspielen“, erklärt der Regisseur. Er sucht den Gegenentwurf zum Horrorkabinett des bluttriefenden Kitsches, und das ist gut. Kinder kennen keine Moral, auch da hat Simons recht. Aber sie wissen nichts von der zerstörerischen Verzweiflung, der „Love me or kill me“-Attitüde, auf die Kane zielt. Und so fehlt diesem Ringelreihen jeder Abgrund. Da muss man leider durch.

Die Figuren heißen A, B, C, und M

Fragmente, Ausbrüche: Das Ensemble der Münchner Kammerspiele in Johan Simons' Inszenierung.
Fragmente, Ausbrüche: Das Ensemble der Münchner Kammerspiele in Johan Simons' Inszenierung.

© Julian Röder

„Gesäubert“ markiert einen Wendepunkt im Werk der Autorin, die endgültige Abkehr vom Realismus. Ihr folgendes Stück „Gier“, im Original mehrdeutiger „Crave“, hat keine Momente der Verstümmelung, auch keine klassischen Rollen mehr. Es lässt die Figuren A, B, C und M eine Polyphonie der Vergeblichkeit anstimmen. Kane selbst erkannte darin ihren Abfall vom Glauben. Nicht an Gott, den hatte sie schon lange hinter sich. Sondern an die Erlösung durch Liebe.

Mit „Gier“ läuft die Simons-Inszenierung zu großer Form auf. Als furios rhythmisiertes Sprachkonzert für vier der sieben durch den Abend rotierenden Schauspieler zieht der Regisseur den Text auf. Sandra Hüller, Sylvana Krappatsch, Marc Benjamin und Stefan Hunstein teilen sich im Presto die Satzfragmente, Gefühlsausbrüche und Klagelieder, die sich zum Mosaik des Scheiterns fügen. Beseelt von Samuel Beckett, wie so vieles bei Kane. Hier beweist sich zum einen, dass die Schauspieler der Münchner Kammerspiele Champions-League-Klasse haben. Und zum anderen blitzt auf, welcher todkomische Humor in diesem Stück steckt. Eine echte Entdeckung. Die großartige Sandra Hüller etwa entzündet noch im scheinbar niedergeschlagensten Ausruf den selbstironischen Funken: „Depression reicht nicht. Ein emotionaler Totalzusammenbruch ist das Mindeste, um zu rechtfertigen, dass man alle enttäuscht“.

„Dieses Stück ist gesungenes Leid“

Ihr letztes Stück schrieb Sarah Kane, nach allem, was man weiß, im Grenzzustand zwischen depressiven Schüben und Phasen der Klarsicht. „4.48 Psychose“ ist das schwierigste Werk der Dramatikerin, oft verzwergt zum blanken Suiziddrama, zum Abschiedsbrief einer unrettbar Kranken. Natürlich nimmt der Text ihre Tat vorweg. Aber er weist auch darüber hinaus. Es war René Pollesch, der bezweifelte, ob im gegenwärtigen Theater dieses Stück überhaupt aufführbar sei. Er räsonierte über das Beispiel einer Schauspielerin, die den Text „mit Tränen versorgen und ihn bejammern“ könne – „aber sie kann doch eines nicht, Sarah Kanes radikale Absage ans Leben teilen“. Das war kein Aufruf zum Selbstmord. Bloß ein Fanal gegen die Harmlosigkeit eines Betriebs, der sich noch den abtrünnigsten Geist einverleibt.

„Dieses Stück ist gesungenes Leid“, glaubt Johan Simons. Ein schönes Bild, und er orchestriert es entsprechend. Die Fragen nach der Biografie löst er auf in Transzendenz. Begleitet von Kammermusikern begegnen sich Sandra Hüller und Thomas Schmauser in festlicher Garderobe zum Abgesang. „4.48 Psychose“ ist ein Stück in Auflösung, eine Folge fragmentarisierter Gedanken, oszillierend zwischen Selbstgespräch und Dialog, voll von Schlüsselsätzen der Verzweiflung: „Körper und Seele, das passt nicht zusammen“. Bei Hüller und Schmauser sind die Rollen offen. Als Beziehung zwischen Arzt und Patient kann man ihr Spiel deuten, zwischen zwei Liebenden, zwischen Eltern und Kind. Sie beherrschen die Partitur virtuos.

„Ich hatte eine Nacht, in der mir alles einsichtig war. Wie kann ich je noch sprechen?“, heißt es in „4.48 Psychose“. In dieses Bewusstsein mündet der Bogen, den der Regisseur mit Sarah Kane schlägt. „Ich glaube, dass Nihilismus die extremste Form von Romantik ist“, hat die Autorin in einem frühen Gespräch über ihre Arbeit gesagt. Man versteht bei Johan Simons und seinen grandiosen Schauspielern, was sie gemeint haben könnte.

„Gesäubert / Gier / 4:48 Psychose“, am 4. und 5. 5., 19 Uhr, Haus der Berliner Festspiele.

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