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Kultur: Treffen im Tigerkäfig

Haft oder Hilfe: Wie ehemalige Mitglieder der RAF und der Bewegung 2. Juni jahrelang mit Therapeuten sprachen

Von Caroline Fetscher

Wie es Mode ist bei Selbstmordattentätern, schickte auch Cho Seung-Hui, der auf dem Campus der Technischen Universität von Virginia ein Massaker anrichtete, vor seiner Tat Videos und Bekennertexte an einen Fernsehsender. Jetzt weiß man, dass der junge Mann mit der Aufforderung, sich in Therapie zu begeben, vor zwei Jahren eine psychiatrische Klinik verlassen hatte. Aus einer solchen Behandlung aber war schon während seiner Kindheit nichts geworden, gibt die Familie südkoreanischer Einwanderer in den USA an, sie habe sich derlei Luxus nicht leisten können.

Andernorts will man klüger sein – auch wenn Amokläufer nur ausnahmsweise eine klinische Vorgeschichte haben: Ein Projekt „Therapie statt Terror“ wird zurzeit etwa in Australien diskutiert. Gezielt sollen dort staatlich finanzierte Maßnahmen menschliche Zeitbomben verhindern, indem Jugendliche mit auffällig hoher Aggression und geringem Selbstwertgefühl unter psychologischer Anleitung „Anger-Management“ erlernen, seelische Unterstützung und religiöse Anleitung erhalten. Als Vorbild dienen Programme in Malaysia, Singapur und Indonesien, die teils in Haft, teils in Freiheit stattfinden, wobei sich moderate Kleriker oder Psychologen den jungen Leuten zuwenden.

Nun wollen Fundamentalisten von der Pathologisierung ihrer Aktionen meist wenig wissen, wie der Psychologe Heiner Halberstadt neulich in der „Frankfurter Rundschau“ schrieb, der im Fall RAF bis heute „jene klassische Verbindung aus revolutionärem Pathos, Schöpfungsfantasien und unbedingter Moral“ am Werk sieht, deren Merkmal die Unbeirrbarkeit ist und nicht Krankheitseinsicht. Umso anrührender klang die jüngste Aussage von Michael Buback, Sohn des vor drei Jahrzehnten ermordeten Siegfried Buback, zum Fall Christian Klar. Zwar sei nicht auszuschließen, dass dieser „darauf bestehen möchte, ein noch größerer Terrorist gewesen zu sein, als er es war“, schrieb Buback. Doch sollte das der Fall sein, „braucht er vor allem Hilfe, aber nicht noch zwanzig Monate Haft.“

Ob vor der Tat oder danach, die besten Kräfte der freien Gesellschaft erhoffen sich bei deren radikalen Widersachern Genesungserfolge durch das zivilisierteste und aufgeklärteste Mittel der Heilung, den therapeutischen Prozess. Dass diesem bei der Prävention wohl mehr Chancen gegeben sind als bei der Nachbereitung – zumal nach Jahrzehnten der Haft –, belegt ein bisher einmaliger Bericht auf eindrucksvolle Weise. Tausende von Seiten sind bereits bedruckt worden, um Analysen des Phänomens Rote Armee Fraktion zu liefern, hier findet sich die erste, in der deutsche Terroristen, Psychoanalytiker und Therapeuten gemeinsam ihre sieben Jahre währende Arbeit in einer Gruppe beschreiben. „Nach dem bewaffneten Kampf“ heißt der im Gießener Psychosozial-Verlag erschienene, rund 200 Seiten starke Bericht. Untertitel: „Ehemalige Mitglieder der RAF und Bewegung 2. Juni sprechen mit Therapeuten über ihre Vergangenheit“.

Als reuige Täter hatte sich die Gruppe nicht vorgestellt, im Gegenteil. Zur Gefängnislektüre zahlreicher RAF-Häftlinge gehörte eine Studie des Psychologen David Becker über gefolterte Gefangene des Pinochet-Regimes in Chile, mit denen sie sich identifizierten. So sprach „eine der bekanntesten Frauen aus der ersten Generation der RAF“ nach einem Seminar mit David Becker 1996 dessen Kollegin Angelika Holderberg an, heute Herausgeberin des Berichts. Sie empfand sich als „Opfer der Gesellschaft“ und forderte von den Therapeuten ein, sich um von „Isolationsfolter“ oder Hungerstreik und Zwangsernährung traumatisierte haftentlassene RAF-Mitglieder zu kümmern. Nach Irritationen, Zweifeln und Bedenken entstand um das Hamburger Michael-Balint-Institut für Psychoanalyse eine lose Gruppe, die sich alle drei Monate traf.

„Das erste Treffen glich einem Tigerkäfig“, erinnert sich Knut Folkerts, der neben Karl-Heinz Dellwo hier mit vollem Namen zeichnet. „Das ehemalige Gefangenenkollektiv war zerstritten und unfähig zur Kommunikation. Ein deprimierendes Bild. Die unbesprochenen Widersprüche aus 20 Jahren waren explodiert und lagen als Trümmer zwischen uns.“ So spaltete sich zunächst nach alter Splittergruppen-Manier ein Teil gleich wieder ab.

Mit den Übrigen haben vor allem Holderberg und ihr Kollege Volker Friedrich über die Jahre gearbeitet. Sich dem ideologischen, paranoiden und psychopathologischen Sog dieser Gruppe zu entziehen, bedeutete, das wird hier überdeutlich, selbst für Professionelle eine Herkulesarbeit. So meiden die Analytiker angstvoll die korrekte Vokabel „Patient“, vor klaren, diagnostischen Kriterien wie Narzissmus oder Persönlichkeitsstörungen scheuen sie zurück, übliches, psychoanalytisches Material fehlt vollkommen, verhandelt werden weder Träume noch Kindheitserinnerungen oder Elternkonflikte, was den Bericht zur beklemmenden Lektüre werden lässt.

„Nie zuvor hatte ich in einer Gruppe so viel gegenseitige Entwertung und so wenig empathisches Mitschwingen erlebt“, hält Holderberg fest. Es entsteht der Eindruck einer Atmosphäre wie in einer postfaschistischen, dysfunktionalen Kleinfamilie, in der Familien-, Gruppengeheimnisse als Movens massiven Binnenterrors fungieren. „Man war miteinander zu inzestuös verbunden“, erkennt Volker Friedrich über die Gruppe zu Beginn der Sitzungen, „um offen zu sprechen“. Erhellend beschreibt Holderberg ihre Erfahrung nach der paranoiden Spaltung der Gruppe: „Es war, als verdichte sich in diesem Augenblick die Vergangenheit der Nazizeit – in einem totalitären Staat, in dem die Gefahr der Denunzierung an der Tagesordnung ist, gibt es keinen Schutz des Privaten – mit der Vergangenheit der 68er Bewegung (das Private ist politisch und damit öffentlich) und mit der Gegenwart.“ Grotesk klingt Ella Rollniks Erinnerung an die Utopie der RAF, der es um „Menschwerdung“ gegangen sei, während ein anonym bleibender Ex-Terrorist bekennt: „Es herrschte Darwinismus in unseren Kreisen“, Kreisen, in denen „die Waffe“ den Aktivisten „zum Aufblühen“ verhelfen sollte.

In solchen Passagen erhält der alte Befund zur Dialektik einer Aufklärung, der es statt um soziale Wärme um absolut gesetzte Ideologien geht, frisches, dichtes Beweismaterial. Auch die zentralen Themen Schuld und Scham, das Entsetzen über die eigenen Taten und das Leiden der Hinterblieben wie Opfer der RAF tauchten in diesem unkonventionellen Prozess nicht auf, so dass eines der Gruppenmitglieder die Therapeuten retrospektiv fragt, warum sie niemals die Schuldgefühle der Täter angesprochen hatten. Stattdessen ging es bei Wochenenden auf dem Land, beim gemeinsamen Kochen und Sprechen vor allem um das Hafttrauma, um das Verarbeiten der meist mythisch gebliebenen „Stammheim-Nacht“ – die Suizide von Baader, Ensslin und Meinhof – und auch, allmählich, um mehr Vertrauen zu sich, zueinander und in die Welt.

So bleibt dieser Bericht nicht nur aufgrund der analytischen Selbstbeschränkungen, der Anonymisierungen sowie der bewusst ausgesparten, da bis heute strafrechtlich relevanten Fakten ein embryonisches Buch, das passagenweise selbst zum Symptom dessen wird, womit es sich befasst. Unmittelbar ableiten lässt sich aus diesem Material an erster Stelle eins: Die Schlussfolgerung nämlich, dass es Therapieangebote für potenzielle „missionarische“ Mörder geben muss. Außerdem aber für die bereits zu Tätern gewordenen, schon während der Haft. Heute denkt man dabei mehr an Amokläufer oder Islamisten als an Formationen wie die RAF, deren Mitglieder sich schon auf dem Weg ins Altersheim befinden.

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