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Bilder aus der Todeszone: Tschernobyl: Ein GAU ist nie zu Ende

In der ukrainischen Geschichte scheint Japans Zukunft auf. 25 Jahre danach erinnern zwei Berliner Ausstellungen an die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl.

Das Wahrzeichen der Atomstadt Pripjat war Prometheus, der Gott, der den Menschen das Feuer bringt. Ein hintergründiges Bild, mit eingeschriebener Warnung. Der Gott beherrscht das Feuer. Der Mensch verbrennt sich daran.

Pripjat, gebaut für die Belegschaft des Kernkraftwerks Tschernobyl, gegründet am 4. Februar 1970, evakuiert am 27. April 1986. Pripjat, eine sowjetische Modellstadt, Wohnblöcke voller Optimismus, Kinder kamen zur Welt, am 1. Mai sollte der Rummelplatz eröffnet werden. Wurde er aber nicht.

Der größte anzunehmende Unfall von Tschernobyl ist auch nach 25 Jahren nicht vorbei. „Die Redensart ,Zeit heilt alle Wunden’ gilt hier nicht“, sagt der Liedermacher und Anti-Akw-Veteran Walter Mossmann, Kurator der Ausstellung „Die Straße der Enthusiasten“ in der Heinrich-Böll-Stiftung. Die Schau erforscht die Geschichte der Katastrophe ebenso wie ihre Gegenwart – eine Bestandsaufnahme, die durch Rüdiger Lubrichts zeitgleich im Willy-Brandt- Haus ausgestellte Fotografien komplettiert wird. Auch Lubricht holt die Sperrzone schmerzhaft nah heran, auch seine Arbeiten lassen in der ukrainischen Vergangenheit die japanische Zukunft aufscheinen. Passend, dass nun, kurz vor dem Jahrestag, der Unfall in Fukushima auf dieselbe Stufe gesetzt wurde wie der GAU von Tschernobyl. Kein Mensch beherrscht das Feuer.

Von wegen, dachten sie damals in den Atomstädten der UdSSR, dem Sowjetmenschen gehört die Welt! Die Ausstellung bei Böll veranschaulicht die Gründungsmythen und Illusionen des Atomzeitalters. Kernkraft, das war Fortschritt und Freiheit. „Das Atom – für den Frieden!“ rief es in den siebziger Jahren von Plakatwänden. Und in einem Propagandafilm jubelt ein Arbeiter: „Hier haben wir ein Atomkraftwerk gebaut, aber die Luft wurde davon nicht schlechter ... Du gehst hinaus und sammelst eine Pfanne voller Waldpilze – wunderbar!“

Auf Enthusiasmus folgt Ernüchterung. Mit diesem bitteren Ende beginnt die Ausstellung: Der kanadische Fotograf Robert Polidori, Jahrgang 1951, zeigt im BöllFoyer schrecklich schöne Stillleben aus Pripjat. Die Bilder sind längst Klassiker (Bildband „Sperrzonen“ bei Steidl, Göttingen, 60 Euro). Da sind der Betonsarkophag um Block 4 des Kraftwerks, der von Rostschleiern überzogene Kontrollraum, dann auch Klassenzimmer, Kindergärten, Wohnungen, verlassen, verwüstet, Farbe platzt von den Wänden. Die Strahlung ist unsichtbar, natürlich ist sie das. Und doch sieht man sie immer mit.

Neben denen von Polidori wirken die Bilder des 1973 geborenen Russen Andrej Krementschouk weicher, weniger distanziert. Sie erzählen von der Sperrzone als Zwischenwelt: leere Wege, ein bleiern strömender Fluss, ein Acker, ein Pferd. Das Gebiet ist ein Lebensraum, trotz allem. Sie sind Mahner, die krummen Alten auf Krementschouks Fotos, zahnlos, mit gefalteten Händen und erhobenen Zeigefingern, sie sind aus der Evakuierung zurückgekehrt, illegal, aber geduldet. Sie leben von Kleinvieh, Kohl, Kürbissen, ohne Strom und fließend Wasser, hier ist ihre Heimat. Eine alte Frau breitet die Arme aus, ein Bild der Verzweiflung, Ergebenheit, eine Kassandra, deren Warnungen niemand gehört hat, niemand hören wird (Versammelt sind die Fotos in den Bänden „Chernobyl Zone“ I und II, Kehrer, Heidelberg, 58 und 25 Euro).

Auch der Worpsweder Fotograf Rüdiger Lubricht hat diese Überlebenden porträtiert, letzte Menschen in verlassenen Dörfern. „Verlorene Orte – Gebrochene Biografien“ heißt die Ausstellung im Willy-Brandt-Haus (gleichnamiger Bildband beim Internationalen Bildungs- und Begegnungswerk, Dortmund, 32 Euro). Lubricht, der seit 2003 in die Ukraine und ins ungleich stärker von Tschernobyl betroffene Weißrussland reist, zeigt eine untergegangene Welt: 350 000 Menschen, 500 Dörfer wurden damals evakuiert, etliche von Bulldozern unter die Erde gepflügt und mit ihnen eine Volkskultur, Stickerei, Trachten, Ikonenkunst. „Letzte Einwohnerin“ steht mehrmals in Bildbeschreibungen.

Im zweiten Teil zeigt Lubricht Porträts von Liquidatoren, Aufräum- und Evakuierungshelfern. 800 000 Männer und Frauen waren in Tschernobyl eingesetzt. „Bioroboter“ hießen sie, standen am Ende der Hierarchie, die Versorgung war schlecht, die Schutzkleidung mangelhaft. Viele starben, die anderen leiden noch heute unter den Folgen. Lubrichts von autobiografischen Zeugnissen begleitete Bilder sind auch deshalb so bedrückend, weil die Parallelen zu heutigen Berichten über die Tagelöhner, die in Fukushima radioaktive Pfützen aufwischen, offensichtlich sind. Dabei lassen sich die Liquidatoren mit Fug und Recht als die „Retter Europas“ bezeichnen – und doch wurden sie für ihren heldenhaften Einsatz nie offiziell gewürdigt. Bis heute.

Menschliche Schicksale, das Schicksal des Menschen – Tschernobyl bietet nicht nur Dokumentaristen Stoff. Bei der Eröffnung im Brandt-Haus wurde auch Markus Schwenzels Kurzfilm „Seven Years of Winter“ vorgestellt. Ein Junge wird zum Plündern in die Todeszone geschickt – und verfällt der Einsamkeit. Der Film läuft auf dem Achtung-Berlin-Festival am 19. April im Babylon Mitte.

Der GAU im Kino: Auf der Berlinale 2011 war das Tschernobyl-Drama „An einem Samstag“ des Russen Alexander Mindadze zu sehen. Der letzte Tanz in Pripjat, die Leute küssen sich, den Metallgeschmack der Katastrophe schon im Mund. Sie trinken, tanzen, sie wissen Bescheid, sie bleiben trotzdem, heute ist ein schöner Tag. Manche Katastrophen sind zu groß, als dass der Mensch draus lernt.

„Verlorene Orte – Gebrochene Biografien“, bis 29. Mai, Willy-Brandt-Haus, Stresemannstr. 28, Kreuzberg. „Die Straße der Enthusiasten“, bis 20. April, Heinrich-Böll-Stiftung, Schumannstr. 8, Mitte. Der Eintritt beider Ausstellungen ist frei.

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