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Protest: „Neujahr ohne Putin“, fordert dieser Demonstrant. Wie Tausende Moskowiter ging er auf die Straße, um gegen den Wahlbetrug zu demonstrieren.

© Reuters

Unruhen in Russland: Der Aufstand beginnt bürgerlich

Die Proteste in Russland gehen weiter, für den 24. Dezember ist eine große Demonstration angekündigt. Der russische Journalist Andrej Kolesnikov erklärt, warum Machthaber Putin seinen politischen Instinkt verloren hat.

Kürzlich sprach Wladimir Putin im Fernsehen zu und mit seinem Volk. Das hat Tradition, es war der zehnte Auftritt dieser Art. Putin verglich zur besten Sendezeit die weißen Bändchen der Protestierenden, das Zeichen des Widerstandes gegen die dreist manipulierten Wahlen vom 4. Dezember, mit „Kontrazeptiven“, also mit Kondomen. Das Bild eines Kondome schwenkenden Volkes, das durch die winterlichen Straßen Russlands zieht, war ein Paradebeispiel für seinen sarkastisch-derben Humor. Nur dass es diesmal nicht funktioniert hat. Was Putin früher Anerkennung brachte, wird nun zum Bumerang. Der strenge Machthaber trifft den Ton nicht mehr.

Auf Facebook, in Russland ein Hort freier Meinungsäußerung und Plattform fortschrittlich und freiheitlich eingestellter Bürger, tauchten umgehend Montagen von Putin mit Kondomen auf. Vor dem Auftritt des „Vaters der Nation“ gab es noch Zweifel, ob die unzufriedene Mittelschicht zur geplanten Großkundgebung am 24. Dezember strömen würde. Doch nach dieser mehr als vier Stunden währenden TV-„Séance“ Putins mit dem Volk war die Skepsis zerstreut. Während in Europa die Familien zum Heiligen Abend zusammenfinden, werden in Russland die Protestierenden wohl in Scharen auf die Straße gehen; das orthodoxe Weihnachtsfest ist erst am 6. Januar. Wenn im Westen ein paar Stunden Nachrichtenruhe herrscht, können die Moskauer Demonstranten für eindrucksvolle Bilder sorgen.

Das im Fernsehstudio zum Dialog mit Putin erschienene „Volk“ bestand aus gesinnungstreuen Kulturschaffenden und vom Kreml protegierten Politikwissenschaftlern, die teilweise sogar aus dem Ausland eingeflogen wurden. Nach dieser Inszenierung könnten die Proteste noch kraftvoller werden als jene am 10. Dezember, als sich mindestens 50 000 Menschen auf dem Bolotnaja-Platz versammelten. Gegenüber liegt das berüchtigte „Haus an der Uferpromenade“, von dem aus Stalin seine Opfer in den Gulag schickte. Heute wächst dort die neue Protestkultur. 50 000 Demonstranten: Für eine jahrelang per Glamour und Kitsch in den politischen Tiefschlaf geschaukelte Stadt wie Moskau ist das eine Menge.

Vor allem die gebildete, urbane Bevölkerung ist Putin leid. Kundgebungen gegen die Regierung fanden in ganz Russland statt. Die Protestierenden sind eine heterogene Gruppe: Studenten, Protest-Veteranen, die vom Geist der späten achtziger Jahre beseelt sind, Intellektuelle und einfache Hausfrauen aus den Schlafstädten rund um Moskau.

Die Oberschicht geht gemeinhin genauso wenig auf die Straße wie Vertreter der Glamour-Branche. Doch selbst Angehörige der Moskauer Schickeria wie Xenia Sobtschak, die russische Variante von Paris Hilton, wurden auf Kundgebungen gesichtet. Der Wahlbetrug hat auch die unpolitischsten Bevölkerungsschichten politisiert.

Und doch: All das ist noch keine Revolution. Es ist nicht wie Kiew 2004, als Hunderttausende Ukrainer in einem Kraftakt Wiktor Juschtschenko und Julia Timoschenko unterstützten und damit den Wechsel in ihrem erstarrten Land erzwangen. Dem gegenwärtigen Protest in Russland fehlt nicht nur eine Führungsfigur, sondern auch eine Partei, die als Basis dienen könnte. Entscheidend aber ist, dass die ukrainische Gesellschaft trotz des späteren Scheiterns der Orangenen Revolution eine andere geworden ist. In der Ukraine gibt es eine qualifiziert debattierende Öffentlichkeit.

Das ist nun auch in Russland der Fall. Allein das Gefühl von Millionen Bürgern, bei der Parlamentswahl betrogen worden zu sein, sorgte im Handumdrehen für das Entstehen eines öffentlichen Diskurses, eine Zivilgesellschaft keimt auf. In diesem Sinne erinnern die Geschehnisse sogar an Gorbatschows „Perestroika“, jedoch mit einem Unterschied: Die Erneuerung beginnt diesmal von unten. Illusionen über einen Wandel von oben verschwanden zusammen mit dem Glauben an Präsident Medwedew. Er hat seine Positionen aufgegeben und Hoffnungen zerstört. Das werden ihm die Russen nicht verzeihen.

Die Revolution in den Köpfen hat schon stattgefunden

Der Protest war von den Behörden auf den Straßen erwartet worden – wie im vergangenen Jahr, als es auf dem Manezhnaja-Platz einen großen Aufmarsch der Nationalisten gab, der die Mächtigen verunsichert hatte. Inzwischen treffen sich die Leute auf dem Bolotnaja-Platz gegenüber dem Kreml. Aber der Ort ist Nebensache, die wahre Revolution hat in den Köpfen der Russen stattgefunden.

Dazu ist es gar nicht einmal nötig, dass die Werte der Protestierenden vom ganzen Land übernommen werden. Große Veränderungen wurden in Russland nie von einer Mehrheit initiiert. Ein kleines Häufchen von Dissidenten ging im Dezember 1956 in Moskau auf die Straße, 1968 waren es gerade einmal sieben Mutige, die gegen den sowjetischen Einmarsch in Prag protestierten. Wer hätte gedacht, dass die Ideen dieser vernichtend kleinen Minderheit 20 Jahre später von nahezu allen Russen geteilt werden würden? Die Marginalisierten formten damals – auf längere Sicht – den Mainstream. Ein ähnlicher Prozess findet auch jetzt statt. Schwierig vorherzusagen ist allein die Geschwindigkeit, mit der er voranschreiten wird.

Putin hat die Zeichen der Zeit nicht erkannt. Die Entwicklung der Gesellschaft ist den Fähigkeiten der Regierung weit voraus. Die hat die letzten Jahre damit zugebracht, immer weiter in Richtung Nepotismus abzudriften statt voranzugehen, zu einer Demokratie westlichen Typs. Die bürgerliche Revolution, die unter Boris Jelzin und seinen Helfern Jegor Gaidar und Wiktor Tschernomyrdin begonnen wurde, kam nie ans Ziel. Nun, mit mehr als zehn Jahren Verzug, ist es an der Zeit, sie zu beenden.

In der Vorstellungswelt des Kremls wird die Protestwelle abflauen, höchstens kosmetische Veränderungen sind geplant. Zum Beispiel das Aufstellen von Webcams in den Wahlämtern, um Betrug vorzubeugen. Aber dafür ist es schlichtweg zu spät. Genauso zu spät wie für die elektronischen Wahlurnen, über die jetzt diskutiert wird und die so gut wie immun gegen Manipulationen sind.

Diese Maßnahmen wurden nicht versäumt, sondern bewusst unterlassen. Sogar ein vom Kreml gelenktes Soziologisches Institut stellte am 11. Dezember ein Rekord-Tief für das Vertrauen der Menschen in Putin fest: 44 Prozent, 2008 waren es noch 70 Prozent. Solch schöne Quoten wird Putin nicht so einfach wiederherstellen können. Im letzten Sommer tauchte der gestählte Politiker ins Schwarze Meer und barg medienwirksam „Schätze“ für das russische Volk vom Grund. Solche Mätzchen werden nicht mehr reichen.

Der Druck der öffentlichen Meinung ist überall spürbar. Die spontanen Demonstrationen begannen schon am Tag nach der Wahl, das Fernsehen ignorierte sie beharrlich. Die massiven Kundgebungen eine Woche später konnten sie nicht mehr ausblenden, sie wurden schlicht zu groß – da mochten die TV–Beiträge noch so sehr andeuten, die Demonstranten seien eine von den USA bezahlte, unpatriotische Bande. Der drittwichtigste Sender des Landes, NTW, sendete eine fast schon vom Verständnis für die Aktivisten geprägte Reportage.

Das aufkommende Bewusstsein, überhaupt aktiver Bürger eines Landes zu sein, und die Herausbildung einer gesellschaftlichen Schicht, die dieses neue Bewusstsein trägt: Diese Faktoren werden die Präsidentschaftswahl im März 2012 wesentlich prägen. Der Wahlkampf verspricht spannend zu werden, vor allem wegen Leuten wie Michail Prochorow. Der Milliardär könnte als klassisch neoliberaler Kandidat ins Rennen gehen. Potenzial hat auch der früher populäre Grigori Jawlinski. Er ist eher linksliberal eingestellt und könnte die Stimmen innerhalb der immer noch vorhandenen, demokratisch orientierten Intelligenzija sammeln. Russland ist aufgewacht.

Andrej Kolesnikov ist Kolumnist bei der „Novaja Gazeta“ in Moskau. Bekannt wurde die Zeitung wegen ihrer regierungskritischen Berichterstattung; auch die 2006 ermordete Journalistin Anna Politkowskaja schrieb für das Blatt. Übersetzt aus dem Russischen von Nik Afanasjew.

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