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IS-Kämpfer im Irak

© AFP

Islam: „Nur für Radikale ist Mohammed ein Eroberer“

Rechtfertigt der Koran Gewalt und Terror, wie die Kämpfer des "Islamischen Staates" glauben? Nein, sagt der Islamwissenschaftler Reinhard Schulze. Er verweist auf die lange Tradition von Toleranz in der muslimischen Welt.

Herr Schulze, die Kämpfer des „Islamischen Staates“ haben mit großer Brutalität Teile des Iraks und von Syrien erobert. Sie berufen sich auf den Koran. Zu Recht?

Sie können sich natürlich auf den Koran berufen, sie können ihn so lesen, als würde er ihre Geltungsansprüche legitimieren oder sogar zur Gewalt auffordern. Aber das ist nur deren Lesart des Korans, die mit Sicherheit nicht den Konsens der Mehrheit der Muslime findet. Diese selektive Auslegung des Textes ließe sich mit der eines Christen vergleichen, der seine Gewaltausübung mit dem Alten Testament Joel 4,10 begründen würde: Wir müssen jetzt alle Pflugscharen zu Schwertern machen.

Hat der Islam deshalb ein Gewaltproblem, weil seine Gründerfigur Mohammed auch ein Feldherr und Eroberer war?

Gerade Vertreter des „Islamischen Staates“ deuten den Propheten Mohammed als Eroberer. Sie sagen: Wir wollen die Frühzeit des Islam wiederherstellen, in der der Prophet Mohammed seine Macht auch mit Eroberungen erweitert hat. In ihrer Praxis inszenieren sie sich, als seien sie Wiedergänger dieser Frühzeit. Diese Lesart von Mohammed mag bei einigen ultrareligiösen Gemeinschaften en vogue sein, aber sie ist nie in dem Sinne normativ gewesen, dass sie die gesamte islamische Geschichte bestimmt hätte. Sonst sähe die Welt anders aus, es hätte permanent Krieg herrschen müssen.

Mohammed ging rabiat gegen Ungläubige vor. Er ließ die Juden aus Medina vertreiben und später massenhaft köpfen. Steht der IS-Terror in dieser Tradition?

Einige Vertreter des Islamischen Staates berufen sich darauf, dass der Prophet Mohammed dazu beigetragen habe, wie einige hundert Männer eines jüdischen Stammes in Medina geköpft wurden. Das Köpfen ist für sie symbolisch, deshalb vollziehen sie heute Hinrichtungen mit dem Schwert. Das zeigt, auf welch skurrile Weise die Terroristen ihr eigenes Handeln begründen, sie inszenieren sich beinahe in einem 1:1-Verhältnis zur vermeintlichen Überlieferung. Dabei weiß man in der islamischen Tradition, dass die erst mehr als 150 Jahre nach Mohammed überlieferte Erzählung keinen historischen Sachverhalt wiedergibt.

Reinhard Schulze
Reinhard Schulze

© privat

Warum wird das ignoriert?

Solche mythischen Erzählungen hatten eine ähnliche Funktion wie zum Beispiel die Aufforderung von Moses an die Leviten im 2. Mose 32,26-28, jeder solle seinen Bruder, seinen Freund und seinen Verwandten töten, worauf an jenem Tag an die dreitausend Mann fielen. So wie kein Jude auf die Idee käme, dass es hier etwas zu befolgen gäbe, verstanden auch Muslime die Erzählung von der Tötung der Juden in Medina nicht als Handlungsanweisung. Sonst ließe sich nicht erklären, warum jüdische Gemeinden bis auf einige Pogrome in Nordafrika im späten Mittelalter so lange friedlich mit der islamischen Mehrheitsgesellschaft koexistieren konnten.

Im Koran heißt es in Sure 9,5: „Tötet die Heiden, wo immer ihr sie findet, greift sie, umzingelt sie, lauert ihnen überall auf.“ Müssen radikale Ausleger der Schrift das nicht als Aufforderung verstehen?

Ja, doch gibt es auch hier immer zwei Lesarten. Die einen Exegeten sagen: Solche Aussagen hatten nur in einer speziellen Situation Gültigkeit und dürfen nicht verallgemeinert werden. Andere, radikalere Exegeten finden hingegen: Das ist Gottes Wort, das ewig gilt, also ist auch diese Aufforderung ewig gültig. Um diese beiden Pole der Ausdeutung gab es schon immer ein Gerangel. Im Falle der Sure 9,5 blieb die zweite Lesart aber immer die einer Minderheit.

Der IS-Chef Abu Bakr al-Baghdadi hat sich zum Kalifen ernannt, zum religiösen wie politischen Führer seines Kalifatstaates. Aber auch in Ländern wie Iran oder dem salafistischen Saudi-Arabien existiert keine Trennung zwischen Staat und Glauben. Braucht der Islam eine Reformation, eine Anpassung an die säkulare Moderne?

In Saudi-Arabien gibt es ein sehr puritanisches, sehr konservatives gesellschaftliches und politisches Gefüge. Die Religion hat einen klaren Auftrag, nämlich eine Normenkontrolle der Gesellschaft durchzuführen. Zugleich aber sagen die saudischen Machthaber heute: Der Islam hat in der Politik, im Staat nichts zu suchen. Sie trennen radikal zwischen der Herrschaftsebene und dem Islam. Dies hat es den Saudis ermöglicht, etwa in Ägypten gegen die Muslimbrüder vorzugehen und den Sturz von Mursi mit herbeizuführen. Die Saudis lehnen den Versuch der Muslimbrüder, den Islam als politische Ordnung zu etablieren, strikt ab. In der 1,5 Milliarden Menschen umfassenden islamischen Welt gibt es viele verschiedene Möglichkeiten, die Beziehung von Religion und Staat zu interpretieren. Eine alle verbindende normative Vorgabe, wonach der Islam nicht zwischen Religion und Staat trenne dürfe, gibt es nicht.

Die Ohnmacht und Wut der Eliten in Saudi-Arabien

Wie kann es sein, dass Saudi-Arabien sich einerseits an den US-Luftschlägen gegen den Islamischen Staat beteiligt, andererseits aber Teile der Bevölkerung mit den Terroristen sympathisieren und sie mit Spenden finanzieren?

Weil etliche Menschen in Saudi-Arabien unglücklich sind mit der Herrschaft der Prinzen und dem Kastensystem, das in ihrem Land entstanden ist. Ihre Spenden für die Kämpfer im Irak sehen sie als einen Ausdruck des Protestes gegen das ungerechte System zu Hause. Der Hass auf Amerika und den Westen ist in diesen Kreisen schon deshalb weniger groß, weil die meisten Elitenangehörigen in Amerika ausgebildet sind und Englisch sprechen.

Mit dem Kalifat will der Islamische Staat an das muslimische Weltreich anknüpfen, das ab dem 8. Jahrhundert von Bagdad aus regiert wurde. Kann diese Vision in der islamischen Welt Strahlkraft entfalten?

Manche frustrierte, unterprivilegierte Muslime sagen vielleicht: Es war schon immer unser Traum, das Kalifat im Herzen der islamischen Welt, im Irak und Syrien, wiederzuerrichten. Gerade Jugendliche mögen mit dieser Idee romantische Vorstellungen verbinden. Aber weil es das Kalifat schon seit Jahrhunderten nicht mehr als Herrschaftsinstitution, sondern nur noch als Ehrentitel osmanischer Sultane gegeben hat und da man Kalifen bloß aus Historienfilmen kennt, fragt sich die Mehrheit der Muslime: Welchen Sinne soll diese Wiederbelebung haben? Zudem besteht keinerlei Konsens darüber, welche Aufgaben und welche Macht heute ein Kalif überhaupt noch haben soll.

Im Westen wird oft übersehen, dass die meisten Opfer des IS-Terrors Muslime sind, nämlich Schiiten. Warum entfacht die Spaltung des Islam, die auf den Nachfolgestreit des 7. Jahrhunderts zurückgeht, heute noch so viel Hass und Gewalt?

Man muss sagen: erstmals so viel Hass und Gewalt. Diese Art der Konfessionalisierung ist relativ jung. Erst seit 30, 40 Jahren hat sich die Trennlinie zwischen Sunna und Schia vertieft. Früher handelte es sich eher um Traditionstrennungen. So wie Katholiken und Protestanten miteinander klarkamen, hatten sich auch Sunniten und Schiiten miteinander arrangiert. Man ging in dieselbe Moschee, wusste aber auch, wen man heiraten oder nicht heiraten durfte. Es waren soziale und rituelle, eben keine politischen Differenzen. Heute wird hingegen betont, dass Sunniten und Schiiten völlig unterschiedliche Traditionen darstellten. Das geht so weit, dass in arabischen Zeitungen von einer „schiitischen Religion“ die Rede ist.

Wie entstand diese Verteufelung?

Der besorgniserregende Bruch hat auch mit der Errichtung einer schiitischen Herrschaft durch den Ajatollah Chomeini im Iran zu tun. Durch sie war die Schia zu einer politischen Instanz geworden, und manche Sunniten machten geltend, dass auch sie Anrecht auf eine sunnitische Herrschaft hätten. Der blutige Krieg zwischen Irak und Iran 1980 bis 1988 vertiefte die konfessionelle Spaltung, die weitere Nahrung im bis heute anhaltenden Hegemonialkonflikt zwischen Iran und Saudi-Arabien fand.

Was macht es für junge Männer und Frauen aus dem Westen so attraktiv, im Irak und in Syrien zu kämpfen und zu töten?

Es handelt sich immer um biografisch begründete Einzelfälle. Oft spielt hier das Gefühl eines Aufstiegsversagens eine Rolle, das manchen der zweiten und dritten Einwanderergeneration, aber auch Konvertiten befallen kann. Die Versprechen ihrer Eltern haben sich nicht erfüllt, Karrierehoffnungen sind gescheitert, deshalb fühlen sich diese jungen Menschen nicht so integriert, wie sie es sein könnten. Sie werden zu Außenseitern. Dies begründet bei ihnen ein tief sitzendes Ressentiment, das in einem zweiten Schritt Rachegefühle weckt und dann mit einem moralischen Tunnelblick begründet wird. Bisweilen nutzen ultrareligiöse Prediger diese Situation aus und geben den jungen Leuten eine Begründung für ihr Ressentiment, indem sie Feindbilder wie „den Westen“ erschaffen. Sie versprechen ihnen ein süßes Leben, wenn die Gläubigen ihren Islam als Dschihad praktizieren.

Das Gespräch führte Christian Schröder.

Reinhard Schulze, 61, ist Professor für Islamwissenschaft an der Universität Bern. Sein Buch "Geschichte der islamischen Welt im 20. Jahrhundert" (C.H. Beck Verlag) gilt als Standardwerk.

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