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Morgens um vier in Berlin. Victoria (Laia Costa), Sonne (Frederick Lau) und Boxer (Franz Rogowski) haben noch längst nicht genug. Irgendwo geht doch jetzt sicher noch was.

© Berlinale

"Victoria": Berlin, ungeschnitten

Schnell, schmutzig, halbstark: Sebastian Schipper führt mit seinem 140-minütigen Trip „Victoria“ durch eine Berliner Nacht - die mit einem Überfall endet.

Über diese Namen gilt’s erstmal rüber zu steigen. Sonne, Boxer, Blinker, Fuß. Jeder für sich riecht nach einer Miniaturparabel. Dabei sehen die Jungs, die sie tragen, sowas von Daniel, Atze, Erkan und Kevin aus. Ganz bodenständiger Berliner Ghettobrother-Appeal. Doch ein bisschen Überhöhung, ein etwas artifizieller Ton kann nicht schaden, beginnt in dieser Nacht doch alles ganz direkt im blendenden Stroboskoplicht eines Kellerclubs.

Grelles Weiß, entsättigtes Blau, nach und nach zeichnen sich Schemen ab, Tänzer. Der der Titelsequenz noch gedämpft unterlegte Beat wird lauter, schneller, wird Clubatmosphäre. Die Kamera saugt sich fest an einem Körper, einem Gesicht. Victoria aus Madrid, seit drei Monaten in der Stadt. Erwartung und Verletzlichkeit im braunen Blick, süße Jugend als zartes Pustelmal auf blühenden Wangen.

Laia Costa spielt mit Intensität und Hingabe

Die Viererjungsgang lernt sie am Ausgang kennen. Sonne quatscht sie an. Dem netten Gequassel und den treuen Max-Schmeling-Gesichtszügen des lässig aufspielenden Frederick Lau kann sie sich nicht entziehen. Auch wenn die angesoffene, von Burak Yigit, Franz Rogowski und Max Mauff typgerecht verkörperte Blase eher nach Gangbang als einem gemütlichen Absacker aussieht. Sie seien wirkliche Berliner Jungs, palavert Sonne, „real Berlin is on the streets“. Zwei Stunden, zwanzig Minuten und einen Banküberfall später wird Victoria, die die Spanierin Laia Costa mit Intensität und Hingabe spielt, die Wahrheit dieser mit einem amüsierten Lächeln abgetanen Binse kennen.

Wahr, wirklich, hautnah miterleben, nicht nur gezeigt bekommen. Das sind wichtige Begriffe für den Berliner Regisseur und Schauspieler Sebastian Schipper, 46, dessen tolles Regiedebüt „Absolute Giganten“ 1999 auf Anhieb den Deutschen Filmpreis in Silber gewann und der zuletzt 2009 auf der Berlinale mit der von Goethes „Wahlverwandtschaften“ inspirierten, stilsicheren Paargeschichte „Mitte Ende August“ vertreten war. Viel zu viel im Kino ist ihm nur fürs Bild inszeniert, gestellt, gemacht, auf absehbare Wirkung programmiert, erzählt er im Gespräch. „Wir wollten eine Geschichte filmen, die vollkommen autark ist, ob ich zugucke oder nicht.“

Alfred Hitchcock brauchte für diese Erzählart noch Tricks

Als Erzählmittel hat er den sagenumwobenen „One Take“ gewählt, den in einer Einstellung gedrehten Film, eine eigentlich erst seit der Digitalisierung umsetzbare sportive und künstlerische Herausforderung, der sich der weiland noch auf Zehn-Minuten-Filmrollen angewiesene Alfred Hitchcock in „Cocktail für eine Leiche“ 1948 noch unter Zuhilfenahme von Studiokulissentricks stellte. Die hatte Schippers Crew nicht zur Verfügung. Sie haben seine auf zwölf dialoglose Treatment-Seiten begrenzte Geschichte gemeinsam entwickelt und an 22 Originalschauplätzen in Kreuzberg gedreht. Nach intensiven Proben und in drei Echtzeit-Durchläufen, wovon der letzte „Victoria“ ist.

Ein Experiment, das zumindest bis zum ersten Morgenblauen dieser alles verwandelten Nacht packend ist, auch wenn André Hennicke als blondierte Ganovenkarikatur im Weg steht. Das Gefühlsgespinst zwischen den Jungs, dieser liebevoll-aggressiven Bruderschaft, fängt Kameramann Sturla Brandth Grovlen, dem jeder Respekt für seine Ochsentour gebührt, sehr feinstofflich ein.

Ebenso den mehr von Übermut als von Erotik gespeisten Flirt zwischen Sonne und Victoria, die sich trotz Mädchenblicks alsbald als Vollmitglied dieser Truppe gebrannter Kinder erweist. Im Lichte des neuen Tages jedoch, als tragische Genreregeln greifen, verliert der Teilzeitthriller die Binnenspannung. Auch setzen visuelle Ermüdungserscheinungen ein. Der Preis der Einheit von Ort und Zeit ist der Gesichterreigen, das Kleben der Kamera an den Menschen.

Kein Bock mehr auf Maske, Klappe, Licht

Wobei Sebastian Schipper sich durchaus traut, auch Dinge außerhalb des Bildes geschehen zu lassen. So wie den den Jungs aufgezwungenen Überfall. Banken von innen zeigen, das gebe es in genug anderen Filmen, winkt er ab. Man müsse nicht überall mit der Kamera reinlatschen. Nie alles zeigen. „Es geht doch darum, das Gefühl zu erzeugen, auf diesen Trip einzusteigen.“

Ein digital und mit kleinem Budget gedrehter Trip, dessen keineswegs betont schmuddeliger Look das improvisierte Lebensgefühl der urbanen Drifter trifft. Auch das von Schipper selbst. Er hat keinen Bock mehr auf die klassischen Produktionsrituale. „Maske, Kontinuität, Licht, Klappe und die Ansage ,und bitte!‘ – das ist doch Folklore! Das stammt noch aus der Dampfmaschinenzeit, als bei Filmproduktionen in Hollywood oder Babelsberg ein Riesenapparat angeworfen wurde.“ Solche Riten seien zwar gut für die Seele der Filmcrew, aber längst nicht immer gut fürs Ergebnis.

Sebastian Schipper ist ein Guter

Der Kontrollverlust, beim Realzeitdreh so gut wie keinen inszenatorischen Einfluss mehr zu haben, hat ihm ziemlich zugesetzt. „Das war traumatisch.“ Nach dem geglückten Dreh war er zwei Monate zu nichts zu gebrauchen. Entspannungsdepression.

Schipper ist ein Guter. Den Zuschauern mutet sein Experiment keine „Atemlos durch die Nacht“-Erschöpfungszustände zu. Sein Erzählstil und die häufig den Originalton ersetzende, verhaltene Filmmusik schaffen immer wieder retardierende Momente. Ein Leben ohne Längen, das wäre ja nicht echt.

7.2., 22 Uhr (Berlinale Palast), 8.2., 14:30 Uhr (Friedrichstadt-Palast), 22:15 (Haus der Berliner Festspiele), 15.2. 18 Uhr (Berlinale Palast)

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