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Kultur: Warum läuft Schüler X. Amok?

Der allerfeinste Unterschied: Thomas Siebens „Staudamm“ ergründet die Traumata nach einer Kleinstadt-Katastrophe.

Es fallen keine Schüsse in „Staudamm“, und da sind auch keine weinenden, fassungslosen Menschen. Dabei gehören Mengen, Opfermengen, Trauermengen, zu jedem Amoklauf. „Staudamm“ aber ist menschenleer. Und sehr still. Genau wie die Welt des jungen Roman (Friedrich Mücke), seit er diesen neuen Auftrag übernommen hat: In einer süddeutschen Kleinstadt wurden 17 Schüler erschossen, und Roman soll für einen Anwalt die Gerichtsakten digitalisieren.

Gus van Sant drehte 2003 „Elephant“, die Geschichte des Amoklaufs an der Columbine High School in den USA. Jeder Versuch, das Thema noch einmal ins Kino zu bringen, muss sich wohl an „Elephant“ messen. Das wusste auch Thomas Sieben und versuchte es trotzdem. „Staudamm“ ist der zweite Spielfilm des jungen Regisseurs. Sein erster, „Distanz“, eröffnete auf der Berlinale vor fünf Jahren die „Perspektive Deutsches Kino“.

Sieben erzählt nicht die Geschichte des Amokläufers, sondern die Romans. Bis eben lebte der junge Mann, Mitte zwanzig, eher orientierungslos zwischen Partys und Computerspielen. Sicher hat er irgendetwas studiert und will nun irgendetwas werden. Aber das hat Zeit. Inzwischen rekonstruiert er den Hergang des Amoklaufes an einer bayerischen Schule. Es ist kein besonderes Interesse dabei, er macht es für Geld, und doch fällt Roman immer mehr aus der Welt. Nicht dass er vorher einen festen Platz dort gehabt hätte – wer hat den schon? –, aber diese Verlorenheit auf der Spur einer viel radikaleren, ist neu. Was überträgt sich da?

Jeder Mensch hat wie die Erde eine Atmosphäre um sich, die ihn atmen lässt. Thomas Sieben filmt in schwindenden Farben das Schwinden dieser Atmosphäre, er zeigt das Vexierbild zweier Einsamkeiten. Roman, das sind wir alle, die verstehenswilligen Nichtverstehenden. Trägt womöglich jeder den Amokläufer in sich, selbst wenn er ihm nie begegnen sollte? „Staudamm“ mag Längen haben – wie jedes Begreifen –, auch hält er seine Spannung nicht durch. Und doch macht dieser karge Film vieles hörbar, was er gar nicht ausspricht.

Sieben zeigt das Protokoll einer Erstarrung. Wegen einer Akteneinsicht fährt Roman in die kleine Stadt, den Ort, an dem „es“ geschah. Ein Mädchen spricht Roman an. Sie errät gleich, warum er da ist: Schließlich haben die wenigen Fremden im Ort fast alle den gleichen Grund für ihr Hiersein. Als ob die schweigenden Häuser wüssten, warum es passiert ist, warum hier und nicht in dem Ort nebenan, wo die gleichen stummen Häuser stehen an den gleichen leeren Straßen.

Es dauert nicht lange, bis Roman ahnt: Diese Laura (Liv Lisa Fries) war dabei, sie hat überlebt. Und ist in ihrem Überlebthaben noch immer gefangen. Das macht sie zu seiner natürlichen Verbündeten. Sie zeigt ihm die inzwischen geschlossene Schule, die leeren Klassenzimmer. Vielleicht sollte man dem feinen, verletzlichen Gespinst, das zwischen ihnen entsteht, keinen Namen geben, schon gar nicht einen so großen wie „Liebe“. Doch ein Weltaufgang ist es für beide, eine neue Lebbarkeit, trotz solcher Sätze: „Ich bin jetzt 18 Jahre alt und verloren. Wir sitzen in unseren Zimmern und draußen wird unsere Zukunft zerstört. Das Schlimmste, was passieren könnte, ist, wenn es noch mehr Fernsehkanäle gäbe, noch mehr Moderatoren.“

Es sind Sätze, die der Amokläufer in sein Tagebuch geschrieben hat. Laura kannte ihn gut, das Tagebuch hat sie noch immer bei sich. Jetzt liest es Roman. Die Welt ist nicht schlecht, sie ist zu voll, hat Heiner Müller gesagt. So sieht das der Amokläufer auch. Oder, richtiger, die Amokläufer: Sieben hat authentische Äußerungen von Selbstmordattentätern kompiliert. Sollte man also Menschen, die so denken und schreiben, vorsorglich der Polizei melden?Aber wie viele Künstler und Philosophen säßen dann auf den Revieren, all diese Amokläufer in Worten, Noten und Farben, die einen feineren Sinn besitzen für die Absurditäten unserer Existenz?

„Staudamm“ zeigt, wie wenig den „normalen“ Menschen von einem Amokläufer trennt. Und wie viel. Mitunter nur ein Anhauch von Atmosphäre um den Glutkern des eigenen Ich. Kerstin Decker

Babylon Mitte, fsk am Oranienplatz

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