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Leise Spannungen. Tom Courtenay und Charlotte Rampling in der Constantine-Adaption „45 Years“.

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"Wie es ist und war" von David Constatine: Trieb und Natur

Das Unerlöste befreien: Die meisterhaften Erzählungen des Briten David Constantine leben von traumähnlichen Bildern.

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Es ist ein Abenteuer eigener Art, einen Schriftsteller über einen Band kennenzulernen, der Erzählungen aus mehr als 20 Jahren versammelt. Stück für Stück wird klar, was seine Obsessionen sind, welche Konstellationen ihn umtreiben, zu welchen Situationen es ihn hinzieht, wo der Reiz seines Stils, seiner Motive und Gegenstände liegt. Es ist, als könnte man einen Menschen von allen Seiten betrachten, sein Gesicht, seinen Körper, die Bewegungen, alles, was ihn ausmacht.

Was der 1944 geborene Brite David Constantine schreibt, ist ganz und gar eigenwillig. Die Sehnsüchte seiner Protagonisten haben etwas Verzehrendes, sie platzen auf wie Wunden, die sich niemals wirklich heilen lassen. Und sie sind gebunden an Landschaften und Orte. Oft spürt man den Sog des Dunklen, eine Neigung zur Depression. Dann pirschen sich irre Aufschwünge heran, verquere Glücksmomente, in bacchantischem Taumel ausbrechende Triebe, befreiend, aber auch unerlöst, mal tragisch, mal komisch grundiert, und nicht selten mit dem männlichen Geschlecht verbunden. In mehreren Geschichten spielen Erektionen eine wichtige Rolle.

Da tanzt ein von seiner Frau verlassener Vikar in einem eiskalten Abbruchhaus mit einem von Priapismus gequälten Obdachlosen, begleitet vom Flötenspiel einer ihnen wohlgesonnenen Frau. Es ist Weihnachten, und der ehemalige Geistliche erzählt noch im Altersheim von diesem wilden Exzess, der damit endet, dass er seinen Vikars-Kragen schwungvoll auf den Ständer des bärengleich tanzenden Obdachlosen wirft. In einer anderen Geschichte tauschen sich zwei Männer über ihre Morgen-Latte aus, die der eine mit einem Stuhl-, der andere mit einem Tischbein vergleicht. Der Bescheidenere verwandelt in tagelanger Schnitzarbeit ein Stück Treibholz in eine vollbusige Meerjungfrau. Seine Frau aber möchte einen vermeintlich unverfänglichen Leuchtturm. Sie befiehlt ihm, wenigstens die „Titten“ abzuhobeln, damit sich ihre Freundinnen nicht erschrecken. Das kreischende Gelächter des Damen-Kränzchens hinter verschlossener Tür spricht allerdings für deren Robustheit. Schamgepeinigt ahnt der Mann, dass seine Frau ihn und seine Sehnsüchte vorführt.

„Another Country“ wurde als „45 Years“ mit Charlotte Rampling und Tom Courtenay verfilmt.

Wie eine Ehe durch die Wiederbelebung der Vergangenheit aus dem Rhythmus eines befriedeten Alters-Gleichklangs gerät, beschreibt die Geschichte, die dem Sammelband im 2015 erschienenen englischen Original seinen Titel gibt: „In Another Country“. Andrew Haigh hat sie als „45 Years“ mit Charlotte Rampling und Tom Courtenay verfilmt. Mrs. Mercer ist zufrieden mit ihrem Leben, von dem sie nicht mehr als ein gewisses Maß an Freundlichkeit und guten Schlaf erwartet. Als sie eines Tages vom Einkaufen zurückkehrt, findet sie ihren Gatten verstört wieder. Auf ihre Frage, was denn nun schon wieder sei, antwortet er schlicht: „Man hat sie gefunden.“ Meisterlich, wie unter dem unwirschen Ton der Frau, deren ständiges „I see“ Dirk van Gunsteren in seiner vorzüglichen Übersetzung mit dem auf Deutsch penetrant-schnippisch klingenden „Aha“ wiedergibt, die Besorgnis hervorkriecht.

Während sie noch bestreitet, dass er ihr jemals von dieser Katja erzählt hat, spricht er schon von „meiner Katja“. Die in Bayern unter abschmelzendem Eis gefundene junge Frau war seine große Liebe. Sie war 20 und schwanger, als sie auf dem Weg von Deutschland nach Italien, von Hitler zu Mussolini, wie es heißt, in seiner Begleitung abstürzte. Dass sie Jüdin war, wird nur nebenbei erwähnt. Die wiedererwachenden Empfindungen ziehen Mr. Mercer in die erregende Beweglichkeit seiner Jugend zurück. Er driftet aus seiner Ehe hinaus – in ein nebulöses Nirgendwo zwischen unbeschwerter Glückseligkeit und Demenz.

Bis auf eine Geschichte, in der ein erfolgreicher Vortragsreisender empört entdeckt, dass ihm irgendwo zwischen Manhattan und Singapur seine Seele abhandengekommen ist, sind fast alle Erzählungen eng mit Naturerlebnissen verbunden. Ob es die Auswirkungen der Klimaerwärmung sind, die Mr. Mercers erste Liebe nach 60 Jahren in unversehrt jugendlicher Gestalt freigeben, oder ob eine Frau namens Lou mit ihrem rätselhaften Liebhaber die gewaltige Orgel erdzeitlicher Monotonie in einer von rauschendem Wasser untergrabenen Höhle erträgt, wird die starke Ambivalenz der Erzählungen von der Amoralität der Natur unterstützt.

Monströs thront das mögliche Verderben über ihrem Schicksal, etwa, wenn ein Künstler mit seiner Frau und der kleinen Tochter in ein Haus unterm Viadukt eines Staudamms zieht. Die Wassermassen können jederzeit auf sie einstürzen, wenn die Mauer bricht. „Unter der Mauer“, so heißt die Geschichte, in der sich das Paar einen jungen Liebhaber teilt. Sie schläft mit ihm, er zeichnet ihn. Und beide lieben Benjamin fast wie ein Kind.

"Wie es ist und war" ist ein Erzählungsband, der sich auf die Gewalt der Natur einlässt

Neben dem Wunsch nach Erlösung und den stillen Epiphanien, in die manche Naturerlebnisse münden, fällt der enorme Drang nach kraftvoller Bewegung auf. Die stärksten traumähnlichen Bilder des Bandes haben damit zu tun. Etwa wenn sich eine an einem schweren Knochenleiden erkrankte Frau vor dem Schimmel fürchtet, den sie vor ihrem Fenster hin und her jagen sieht, als „Inbegriff der Kraft“, die ihr so sehr fehlt, dass ihr übel davon wird.

Eines Tages rettet sie der Schimmel, indem er sich nach einem Sturz über sie beugt und mit einem Stüber auffordert, ihre Arme um seinen Hals zu schlingen. Panik, Rettung, Zartheit gehen als Sinnbild animalischer Ambivalenz ineinander über. Während eines Streits mit dem Geliebten beobachtet eine andere Frau sehnsüchtig die kraftvollen Bewegungen von Kitesurfern, die sich vom Wind durch die Wogen ziehen lassen. Sie erkennt in ihnen „den Inbegriff der Grazie, deren innerster Kern die Freiheit ist.“

Der Münchner Antje Kunstmann Verlag ist gar nicht genügend zu loben, dass er diesen außergewöhnlichen Schriftsteller, der auch in Großbritannien eher ein Geheimtipp ist, in Deutschland einführt. 30 Jahre lang lehrte David Constantine deutsche Sprache in Durham und Oxford. Die Einflüsse von Johann Peter Hebel und E.T.A. Hoffmann sind ebenso wenig Zufall wie der unangestrengte Umgang mit griechischer Mythologie, mit Dante und deutschen Klassikern wie Goethe, Hölderlin, Kleist und Brecht, die er übersetzt hat. David Constantine versteht sich in erster Linie als Lyriker. Er hat mehrere Gedichtbände geschrieben, zwei Romane und erhielt für seine Erzählungen unter anderem den angesehenen Frank O’Connor International Short Story Award.

Die Gegenstände, über die David Constantine schreibt, haben stets materielles Gewicht. In ihrer sinnlichen Präsenz gehören sie der Dingwelt an. Und doch sind sie unterlegt mit einem Strom Natur- und Kulturgeschichte, der ihre Bedeutung ständig verdreht. Ein starker Rhythmus und überwältigende Bilder prägen „Wie es ist und war“, einen Erzählungsband, der sich auf die Gewalt der Natur einlässt, auf die Gewalt des Universums und der Erde, die in ihrer „lieblosen“ Gleichgültigkeit um so vieles mächtiger ist als der Mensch, der sie zu seinem eigenen Verderben bearbeitet, bis sie ihn abwirft.

David Constantine: Wie es ist und war. Erzählungen. Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. Verlag Antje Kunstmann, München 2017. 332 Seiten, 24 €.

Meike Feßmann

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