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 1979 entstand Dislers Gemälde „Untitled“

© Galerie Mehdi Chouakri

Wiederentdeckung von Martin Disler: Fratzen der Liebe

In den achtziger Jahren wurde er auf einen Schlag bekannt, nach seinem frühen Tod geriet Martin Disler aus dem Blick des Kunstmarkts. Jetzt feiern zwei Berliner Galerien seine wilde Malerei.

„Schlafe, mein Liebeshungerkünstler, sonst explodiert dein Gehirn.“ Mit diesen geflüsterten Worten seiner Gefährtin beginnt Martin Dislers Roman „Die Versuchung des Malers“, der jetzt erst, achtzehn Jahre nach seinem frühen Tod erscheint. Der Künstler verstarb mit 47 Jahren über dem Manuskript, in dem es wie in seiner Kunst um Verausgabung, Exzess, die Entdeckung ungeahnter Erfahrungsräume ging. Es gilt, den Schweizer Wilden als Schriftsteller neu kennen zu lernen, parallel dazu erlebt sein künstlerisches Werk ein Comeback.

Schon vor zwei Jahren gab sein Nachlass Werke an das ehemalige Kloster Schönthal nahe Basel, damals ein Coup. Nun ist in gleich zwei Berliner Galerien, bei André Buchmann und Mehdi Chouakri, Dislers Malerei zu sehen. Bei beiden überrascht diese Wahl, bei beiden bestehen jedoch Verbindungen. Seit 2013 betreut die Galerie Buchmann den Nachlass, in ihrer Dependance in Lugano, wo Disler einst einen Wohnsitz unterhielt, war bereits eine Ausstellung zu sehen. Der Sammler und frühere Kölner Kunsthändler Paul Maenz, dem die Galerie Chouakri verbunden ist, vertrat Disler in den Hochzeiten der wilden Malerei. Umso spannender die Wiederbegegnung mit einem Urvieh jener Phase: Besitzt diese Kunst noch die gleiche Dramatik, packt wieder die irre Emphase? Oder haben wir uns durch die Wühlereien eines Jonathan Meese an Exaltiertheiten auf der Leinwand satt gesehen?

Mit Fasten, Schlafentzug und Drogen erweiterte Martin Disler sein Bewusstsein

Die Antwort kann nur lauten: hingehen, selber sehen. Es lohnt sich allemal. Die größte Überraschung bietet das Frühwerk, das bei Mehdi Chouakri zu sehen ist. Programmatisch lautet der Ausstellungstitel „1979“ nach jenem Jahr, in dem der Autodidakt seine expressive Malerei entwickelte, die ihn in eine Reihe mit den anderen Jungen Wilden in Berlin, Hamburg und Köln stellte, wenn er auch immer eine singuläre Figur blieb. Im folgenden Jahr hatte Disler eine Ausstellung in der Kunsthalle Basel, die ihn auf einen Schlag bekannt machen sollte. Es folgten Einladungen zur Documenta nach Kassel, auf die Biennale nach Venedig. Nach einem Dezennium von Minimal- und Konzeptkunst hatte sich der „Hunger nach Bildern“ Bahn gebrochen. Disler lieferte Ungezügeltheit und Entladung. Mit ausgedehnten Fastenkuren, Schlafentzug, Drogen suchte er die Grenzen des Bewusstseins zu erweitern, das Ergebnis war eine Explosion von Formen, Farben, Strichen auf der Leinwand.

Die Bilder zeigen Ausbrüche in alle Richtungen

Die Ausstellung bei Chouakri zeigt den Scheidepunkt, an dem der ursprünglich abstrakte Künstler zur Figuration findet. Fratzen schauen den Betrachter an, blecken ihre Zähne. Disler arbeitet mit grobem Pinsel, summarisch, schnell mit Dispersionsfarbe auf dem Dämmstoff Pavatex (18 000 bis 25 000 €). Die Gemälde entwickeln allein durch ihre Größe Wucht. Er überträgt so in ein anderes Format, womit er in seiner Frühphase als Künstler, in den Siebzigern, begann. Von der Schriftstellerei kommend, arbeitet er mit abstrakten Zeichen auf Papier.

In den folgenden Jahren sollte Disler den Exzess immer weiter vorantreiben. Die tumultuösen Bildern in der Galerie Buchmann aus der Zeit Mitte bis Ende der achtziger Jahre zeigen die Ausbrüche in alle Richtungen, menschliche Körper bäumen sich, Arme, Beine ragen heraus (24 000 bis 47 000 €). Seine Figuren befinden sich im permanenten Liebeskampf, wie der Protagonist in Dislers letztem Roman. „Hier liegst du, Maler – eine ausgedrückte Farbtube –, in einem bösen Traum von einem achtlosen Schuh zerquetscht“, raunt die Gefährtin dem Schlafenden weiter zu.

Liebe und Tod, Eros und Thanatos – das waren die Pole, zwischen denen sich das Werk dieses Ausnahmekünstlers entfaltete: immer mehr, immer größer werdend. 1981 schuf er für den Württembergischen Kunstverein in Stuttgart das 140 mal 4,5 Meter große Monumentalgemälde „Die Umgebung der Liebe“, das sich heute im Besitz der Gottfried-Keller- Stiftung befindet und als Schweizer Kulturgut von nationaler Bedeutung gilt. Über seinem letzten Projekt, 999 Aquarelle unter dem Titel „Arbeiten für den nassen Weg“, die sich mit Gedichten von Fernando Pessoa beschäftigen, verstarb er an einem Hirnschlag. Die alles verschlingende Finsternis meint man auch schon in dem 250 mal 250 Zentimeter großen Gemälde von 1988 bei Buchmann zu erkennen, ein Totentanz hohläugiger Figuren. Im selben Jahr hielt Disler bei der Eröffnung der Art Basel eine Rede, in der er sich als „der letzte Künstler des Jahrhunderts“ bezeichnete.

Ein Vierteljahrhundert später ist die Figuration zwar nochmals zurückgekehrt, auch die gleichzeitige Entäußerung in Malerei, Skulptur und Text gibt es wieder, und doch ist alles andere. Mit Dislers Furor nehmen es die Jüngsten Wilden nicht auf. „Ich bin ein Scheiss- und Dreckmaler, gottverdammich Bullshitschlirrger, Futzenmaler, Irrenhäusler, Scheissgoof, Chickenshit“, schrieb er 1980. An diesen Wahn wagt sich niemand heran. Wie gefährlich er ist, lehrt Disler ebenfalls. Sein Werk imponiert umso mehr, in ihm funkelt noch immer die Leidenschaft, das Drama des Lebens.

Galerie Mehdi Chouakri, Invalidenstr. 117, Galerie Buchmann, Charlottenstr. 13, bis 1. 11.; Di bis Sa 11–18 Uhr. Martin Disler: Die Versuchung des Malers, 176 S.,

Pearlbooksedition, Zürich, 28 €.

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