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Film: Zeig mir, was Liebe ist

Sie war die deutsche Billie Holiday: Ein Filmporträt und ein Album würdigen die vergessene Jazzsängerin Inge Brandenburg

Schönheit wird manchmal aus Schmerzen geboren. Es beginnt mit geflüsterten Worten: „Jeden Morgen scheint wieder die Sonne / Doch nicht jeder hat Augen zu sehen“, dann setzen Bass und Hammondorgel ein, zum Refrain entfaltet sich mit gestochen scharfen Bläsersätzen die ganze orchestrale Wucht: „Morgen kann es schon zu spät sein / Morgen ist es vielleicht schon zu spät.“ Das tosende Finale endet in schrillen Schreien: „zu spät, zu spät“. Die Altstimme, die in dieser Aufnahme von 1971 säuselt und seufzt, wispert und wütet, gehört Inge Brandenburg. Der Text, den sie selbst geschrieben hat, handelt von Niederlagen, Schicksalsschlägen und verpassten Chancen, Dingen, die sie nur allzu gut kannte. „Wenn man so etwas schreibt, muss man schon einiges überlebt haben“, sagt der Pianist Roland Kovac, von dem die Musik stammt.

Brandenburg galt einmal als beste deutsche Jazzsängerin der Nachkriegszeit. Doch als der Jazz nach dem Siegeszug der Beatles an Popularität verlor, geriet Inge Brandenburg in Vergessenheit. Ihre letzten Jahre verbrachte die Sängerin in einem Münchner Einzimmer-Apartment, das vom Sozialamt bezahlt wurde. Nur sieben Menschen folgten dem Sarg, als sie 1999 in einem Armengrab beigesetzt wurde. Gestorben war Brandenburg mit 70 Jahren an den Folgen ihrer jahrelangen Alkoholabhängigkeit. Ob sie noch Pläne habe, wurde sie in einem letzten Interview gefragt. „Ich habe aufgehört zu planen“, antwortete sie. „Mein größter Wunsch wäre, noch eine sehr schöne CD zu hinterlassen, ehe ich dann hinüberschwebe.“

Jetzt aber wird die Musikerin wiederentdeckt. An diesem Donnerstag startet der Dokumentarfilm „Sing! Inge, Sing!“ des Berliner Regisseurs Marc Boettcher in den deutschen Kinos, der in hinreißenden alten Film- und Fernsehbildern und in Dutzenden Zeitzeugenaussagen vom – so der Untertitel – „zerbrochenen Traum der Inge Brandenburg“ erzählt. Eine gleichnamige, von Boettcher kompilierte CD ist – es wirkt wie eine posthume Wunscherfüllung – gleich nach Erscheinen auf Platz 5 der „Vocal Jazz“-Charts des Internethändlers Amazon eingestiegen. Da singt, swingt und scattet die Brandenburg, begleitet von Jazzgrößen wie Kurt Edelhagen, Werner Müller, Albert Mangelsdorff oder Peter Herbolzheimer durch die Standards des Great American Songbooks, von „The Man I Love“ über „Love Me Or Leave Me“ bis „Body And Soul“.

Das Leben von Inge Brandenburg bestand oft mehr aus Überleben. 1929 in Leipzig geboren, war ihre Kindheit von Armut und Gewalt überschattet. Ihr Vater, ein Kommunist, der im Ersten Weltkrieg den Kriegsdienst verweigert hatte, verschwand 1939 im Konzentrationslager Mauthausen. Die Mutter musste sich prostituieren, um ihre sechs Kinder durchzubringen, galt als Asoziale, kam ebenfalls ins KZ und wurde kurz vor Kriegsende erschossen. Inge wuchs in einem Heim für Schwererziehbare im anhaltinischen Städtchen Bernburg auf. Die Hälfte ihrer Mitschüler stammte aus einer angrenzenden psychiatrischen Klinik und wurde im NS-Euthanasieprogramm ermordet. Ein Lehrer erkannte Inges Musikalität, doch als sie um Klavierunterricht bat, lachte die Heimleiterin bloß und sagte: „Lern’ lieber einen anständigen Beruf.“

Nach Kriegsende strandete Brandenburg in Augsburg, fand Arbeit bei einer Bäckerfamilie und lernte Klavierspielen. „Ich wurde ein anderer Mensch, endlich hatte ich ein Ziel vor Augen“, notierte sie später in ihren Erinnerungen, aus denen der Film zitiert. Sie antwortet auf die Kleinanzeige eines Orchesters, das „eine Sängerin mit tiefer Stimmlage, Englischkenntnissen und gutem Aussehen“ sucht, beginnt, in den Clubs der amerikanischen Besatzungssoldaten zu singen, und zieht nach Frankfurt, damals das Zentrum der deutschen Jazzszene. Dort gilt sie aber zunächst als „Tanzmusikmaus“, so der Kritiker Siegfried Schmidt-Joos.

Brandenburg ergattert ein Engagement in Libyen und tourt monatelang als „deutsches Mädchen mit der schwarzen Stimme“ durch Skandinavien. Als sie zurückkehrt, sind sich auch die pfeiferauchenden Herren in den Frankfurter Jazzkellern einig: So inbrünstig hat noch keine andere Deutsche gesungen. „Ella Fitzgerald war die strahlend virtuose Sängerin, die hatten wir auch, das war Caterina Valente“, sagt Schmidt-Joos. „Und jetzt hatten wir auch noch unsere deutsche Billie Holiday.“

Den Zenit ihrer Karriere erreicht Inge Brandenburg, als sie 1960 bei einem Festival im französischen Juan-les-Pins zur „besten europäischen Jazzsängerin“ gewählt wird. „Sie war das, was man eine kompromisslose Jazzsängerin nennt“, erinnert sich Udo Jürgens, der sie damals kennenlernte. Doch die Kompromisslosigkeit sollte zum Verhängnis werden. Anders als Valente, die auch eine Albernheit wie „Itsy Bitsy Teenie Weenie Honolulu- Strand-Bikini“ zum Hit machen konnte, war Brandenburg nicht geeignet zum überzeugenden Vortrag eines Schlagers. Sie bekam Plattenverträge bei der Teldec und später der Polydor, nahm Herz- Schmerz-Titel wie „Es ist doch immer wieder schön“ auf und schreckte auch nicht vor Auftritten in Kino-Schlagerrevuen wie „Ein Stern fällt vom Himmel“ zurück. Aber als die Plattenfirmen sich weigerten, das zugesagte Jazzalbum mit ihr zu produzieren, zog sie erbost vors Gericht. In der Musikbranche galt sie danach als verbrannt.

Den Anstoß zur „Sing! Inge, Sing!“-Dokumentation gab ein Sammler, der auf einem Münchner Flohmarkt Kisten mit Fotoalben, Kleidern, Film- und Tonbändern der Sängerin entdeckte. Er schickte das Material an Marc Boettcher, der schon Filme über Bert Kaempfert, Gitte Haenning und die Sängerin Alexandra gedreht hatte. „Zeig mir, was Liebe ist“, singt Inge Brandenburg in dem Film und tanzt dazu, die Aufnahme stammt aus den frühen Siebzigern, in einer grellgelben Bluse durch ihre Wohnung. Am besten beschreibt der Konzertveranstalter Fritz Rau die Wirkung ihrer Stimme: „Sie hat meine Seele berührt.“

„Sing! Inge, Sing!“ ab Donnerstag im Berliner Eiszeit Kino und in den Tilsiter-Lichtspiele. Die gleichnamige CD erscheint bei Silver Spot Records/Edel.

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