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Feurio. Es gab, damals in den Siebzigern, nicht nur politisch motivierte Brandstiftungen: Gilles und seine Politkollektivfreunde feiern Party - die bald von einer Tragödie überschattet wird.

© NFP/Carole Bethuel

Zeitgeschichte: Nach dem Pariser Mai: Immer in Bewegung bleiben

Fragt sich nur, in welche Richtung es einen treibt. Die Kämpfe der 68er-Jugend rekapituliert Olivier Assayas in seinem fabelhaften autobiografischen Film „Die wilde Zeit“.

Gehen, Laufen, Werfen, Flüchten, Fahren: Die Clique, die Olivier Assayas porträtiert, ist permanent in Bewegung, so agil wie die Zeit, in der sein Film spielt – die Zeit nach dem Pariser Mai – so der französische Originaltitel „Après Mai“ – die frühen siebziger Jahre. „Die wilde Zeit“ beginnt mit einer eskalierenden Straßenschlacht zwischen Demonstranten und der Polizei. Gilles (Clément Métayer) ist mittendrin, der 17-jährige Gymnasiast und seine Freunde drucken Flugblätter, sprayen nachts Parolen an Schulen, nehmen die schweren Verletzungen eines Wachmanns in Kauf, diskutieren, wägen ab, sprechen von Veränderung. Aber erst mal müssen sie aushandeln, wie weit sie eigentlich gehen wollen.

Gilles versteht sich als Künstler. Während die Revolten ganz Europa überziehen und sich kurzzeitig eine internationale, solidarische, unterschiedlich handlungswillige Rebellengeneration herausbildet, muss er Entscheidungen treffen. Moralische: Will er in den Untergrund oder auf die Akademie? Emotionale: Will er Laure (Carole Combes), die seine Kunst versteht, ihn aber verlässt, weil die Eltern wegziehen, oder Christine (Lola Créton), die ihn liebt, sich aber dem politischen Kampf verschreibt?

Regisseur Assayas hat die Kamera zu einem aktiven Mitglied der jugendlichen Agitprop-Clique gemacht. Kameramann Éric Gautier ist stets mittendrin, umkreist die Aktionen oder läuft vorneweg. Wegen

dieser ungewöhnlichen Mobilität und der starken Musik – unter anderem von Captain Beefheart, Nick Drake und Syd Barrett – ist auch der Zuschauer immer in Bewegung. Er geht, läuft, wirft, flüchtet und fährt auf der Reise buchstäblich mit. Dass die Auf- und Umbrüche von damals weniger in Worten, Sprüchen und Slogans als in Aktionen lebendig werden, unterscheidet Assayas’ Film von anderen Kinoerzählungen über ’68 und die Folgen, auch von den deutschen. Ihm liegt am sinnlichen Erleben, an Nähe, seine Autorisierung ist die Authentizität: Einmal mehr hat der 1955 geborene Regisseur Erlebnisse aus seiner eigenen Jugend verarbeitet. Seine Machart ist emotional, dennoch ausgeklügelt. In anderen Filmen mag jene Zeit als bleiern empfunden werden, bei Assayas ist sie wild.

Am Ende hat einer die Kunst gewählt und eine den Tod, eine die „revolutionäre Syntax“ eines Filmkollektivs, eine die Rückkehr in den Schoß der Familie. Jene wilden Jahre haben die Menschen mitgerissen. Warum und wohin, das veranschaulicht Assayas meisterhaft.

In Berlin im Cinema Paris, FT am Friedrichshain, Passage, OmU: Babylon Kreuzberg, Cinema Paris

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