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Kultur: Zeitlupenpop am Polarmeer

Sturm und Stromgitarren: Beim Airwaves-Festival in Reykjavík spielen Bands aus Island und Berlin.

Ein eisiger Wind pfeift durch Reykjavíks schmale Partymeile, den Laugavegur. Er lässt Straßenschilder scheppern und peitscht Musikern den Hagel in die Gesichter, während sie ihre Gitarrenkoffer aus Kleinbussen zerren und in die Kneipen schleppen. Vor dem „Downtown Hostel“ hat sich eine Schlange gebildet, der Sound eines Schlagzeugs dringt nach draußen. Die Berliner Band Me and My Drummer spielt als eine der ersten beim „Iceland Airwaves“. In der Lobby drängt man sich dicht an dicht, allein 600 Deutsche sind nach Reykjavík gekommen.

Das fünftägige Airwaves-Festival zieht jeden Herbst Fans von Indie-Musik in die isländische Hauptstadt. Zum Programm gehören auch rund dreißig „Off-Venues“. Tagsüber spielen Bands kostenlos in Bars, Restaurants, Buchläden und Hostels, am Abend füllen sie die großen Bühnen der Stadt. Charlotte Brandi und Matthias Pröllochs treten als Me and My Drummer insgesamt drei Mal auf, manche Band spielt sieben Shows.

Das Airwaves startete 1999 in einem Hangar auf dem Flugplatz von Reykjavík, seitdem kamen Bloc Party, Hot Chip, The Kills und TV On The Radio. In diesem Jahr sind The Vaccines und Patrick Wolf angereist, auch das deutsch-schweizerische Duo Boy. Die internationalen Künstler machen aber nur den kleineren Teil des Festivals aus, weit mehr als die Hälfte der über 200 Bands kommen aus Island selbst, einem Land mit weniger Einwohnern als Bielefeld. Es heißt, jeder Zweite hier spiele ein Instrument.

Die neuen Helden heißen Of Monsters and Men. Ihr Debütalbum traf im Frühjahr den globalen Massengeschmack: „My Head Is an Animal“ stand auf Platz vier der deutschen Charts, auch in Großbritannien und den USA erreichte es die Top Ten. Beim Airwaves stehen acht Musiker auf der Bühne, Sängerin Nanna Hilmarsdóttir stimmt im buntgestreiften Poncho auf ihrer Akustikgitarre die Hymnen an. Es folgen Pauke, Trompete und Akkordeon, der silberne Konfettiregen, der sich über das Publikum ergießt, findet seine Entsprechung im weltumarmenden, wenn auch weitgehend humorfreien Indie-Pop der Band. Sie verbreitet mit emphatischem Ernst Lebensfreude, befriedigt ein Bedürfnis nach der großen pathetischen Geste. Die sphärisch-entrückte Musik mancher isländischer Künstler wandelt auf dem Grat zwischen verhuschtem Zauber und esoterischem Kitsch. Es gibt sie beim Airwaves, die Bands, bei denen Traumfänger vom Gitarrenhals baumeln – aber auch erfrischend anderes.

Retro Stefson sind in der Heimat Stars, im Ausland gelten sie noch als Geheimtipp. Ihre Musik ist das Gegenstück zum gängigen Island-Klischee: glucksender Disco-Funk, tanzbar, extrovertiert und schweißtreibend. Um jenseits der Heimat Gehör zu finden, haben die sieben Bandmitglieder im vergangenen Jahr als WG in Moabit gelebt und viele Konzerte in Deutschland gespielt. Bassist Logi Pedro Stefánsson glaubt an einen besonderen Anreiz, in Island originelle Musik zu schaffen: „Man muss hier einen Stil finden, den sonst noch niemand besetzt, und dadurch wird man kreativ“, sagt er. Bei Retro Stefson führt es zu einem Mix aus Soul, Afrobeat und Metal-Gitarren – der funktioniert, weil er humorvoll transportiert wird, aber ernst gemeint ist. Ansonsten tragen die Bands Namen wie „Svartidauði“ und „Úlfur Úlfur“, sie spielen Death Metal und chaotischen HipHop, elektronischen Dreampop und Hillbilly, Ska und Techno.

So verlässlich wie die Vielfalt der isländischen Musikszene ist auch der Wind als steter Begleiter des Festivals. Am zweiten Tag steigert er sich zum Sturm. Dächer werden abgedeckt, die Feuerwehr rückt aus. Menschen taumeln auf der Straße herum, der Weg von einem Auftrittsort zum nächsten wird zum Kampf mit der Naturgewalt. Eilig setzt die Festivalleitung Shuttle-Busse ein, um die wenigen hundert Meter zwischen den Locations zu überbrücken. Wie immer ist das Airwaves ausverkauft, zum ersten Mal aber sind mehr Ausländer als Einheimische gekommen. „Wir laden Bands aus anderen Ländern ein, um deren Fans zu uns zu holen – und dann unsere isländische Musik zu exportieren“, sagt Festivalchef Grímur Atlason über die Idee hinter dem Airwaves.

Dass es die Kreativität befeuert, Musik als Spielwiese zu begreifen, glaubt auch Charlotte Brandi von Me and My Drummer und wünscht sich mehr von diesem Geist in Deutschland. Sie und ihr Schlagzeuger haben ihren letzten Auftritt auf der Hauptbühne des Harpa, dem Konzerthaus im Hafen Reykjavíks. Der Saal ist gut gefüllt, das Publikum applaudiert wohlwollend. Brandi und Pröllochs sind zu zweit, spielen Keyboard und Schlagzeug, wo viele isländische Bands auf die Kraft der Gitarren und Ensembles setzen.

Das große Finale des Festivals lässt schließlich den Sturm verstummen, die Stadt hält den Atem an für Sigur Rós. Ihr streichzarter Zeitlupenpop treibt elegisch dahin, bis mit orchestraler Wucht der Bass zu dröhnen beginnt, das Schlagzeug zu hämmern, die Posaune zu blasen und sich die sirenenhafte Stimme von Jón Þór Birgisson in die Höhe schraubt, während in naturergebenen Visuals im brennenden Wald die Funken sprühen. Kleiner geht’s nicht. Als die Band nach zwei Stunden die Bühne verlässt und die Menschen aus der Halle drängen, hat Nieselregen eingesetzt. Auch der Wettergott weiß seine Instrumente richtig einzusetzen.Kaspar Heinrich

Kaspar Heinrich

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