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Mit den Diabelli-Variationen bestritt Igor Levit 2010 sein Konzertexamen in Hannover. Was er besonders liebt: Zyklen, Variationen, Weltenwanderungsmusik.

© Felix Broede

Kultur: Zorn und Zärtlichkeit

Weltreisemusiker: Der 24-jährige Pianist Igor Levit gibt mit Beethovens Diabelli-Variationen sein Berlin-Debüt. Eine Begegnung

Eigentlich gehört so ein D-Flügel nicht in eine Privatwohnung. Zu groß (2,74 Meter) und zu schwer (fast 500 Kilo). Igor Levit nennt ihn einen noblen Freund, mit dem er sich auch mal streitet. Ein Lebewesen voller Mimosen, sagt der 24-jährige russisch-deutsche Pianist. Deshalb steht der Konzertflügel, gesponsert von der Londoner „Opera at Sadler’s Wells“ nun bei ihm in Hannover. Hochparterre. Der Steinway passte knapp durch die Tür.

Vorher hatte er das Instrument in einem Altersheim in Hannover untergebracht. Nachdem er dort seinen ersten Soloabend gab, durfte er den Flügel im „Blauen Salon“ aufstellen. Die alten Leute schauten gerne mal rein, wenn er spielte. Dann die Katastrophe. Seit Eleonore Büning letztes Jahr in der „FAS“ eine Hymne auf den jungen Musiker verfasste, springt Levit immer häufiger für Kollegen ein, für Hélène Grimaud in Bielefeld, Mihaela Ursuleasa in München oder Vladimir Feltsman in Frankfurt/Main. Wochenlang war er nicht da, und als es kalt wurde, drehten die Leute im Stift die Heizung hoch. „Nur noch 20 Prozent Luftfeuchtigkeit, die Mechanik schmierte ab, dem Flügel drohte der Trockentod!“

Die einzige Rettung war die Notaufnahme im Elternhaus, im Wohnzimmer vis-à-vis dem kleinen Kawai-Flügel, den Levit seit seiner Kindheit spielt. Der Kawai war die erste größere Anschaffung, als die Familie aus Gorki, dem heutigen Nischni Nowgorod, nach Deutschland kam. Der Vater Bauingenieur, die Mutter Klavierlehrerin, Igor war acht, auch die Schwester spielte Klavier. Sein erstes Konzert gab er mit sechs mit dem Philharmonie-Orchester von Nischni Nowgorod, Händels F-Dur-Klavierkonzert. Aber daran erinnert er sich nicht mehr. So wie unsereins sich nicht ans Sprechenlernen erinnern kann, kann Levit sich nicht an seine Klavier-Anfänge erinnern. Nicht, dass er gedrillt wurde. Wenn er bolzen gehen wollte, ging er raus und bolzte. Ein Dickkopf war er sowieso.

Igor Levit reist viel neuerdings, spielt beim Kissinger Sommer, war zuletzt unter anderem in Frankfurt, Wien, München, Mailand und gerade wieder in China. Am liebsten reist er, wenn er am Klavier sitzt. Das Konzertexamen 2010 bestritt er mit Beethovens „Diabelli-Variationen“, das er auch für sein Berlin-Debüt ausgewählt hat. Er nennt es Reiseliteratur. „Man bricht auf und weiß nicht, wohin man gerät, selbst wenn man es schon zigmal gespielt hat.“ Levit mag solche Musik, die einen auf fremde Planeten oder in die eigene Innenwelt entführt, Entwicklungsmusiken, Variationswerke, Zyklen. Das heutige Konzert ist Auftakt zur Radialsystem-Reihe „Veränderungen“, bei der Levit in loser Folge weitere Weltreisemusiken spielen wird: Bachs Goldberg-Variationen, Liszt oder Frederic Rzewski.

Die meisten der jungen Pianisten von heute, David Fray (siehe nebenstehende Kritik), Yundi Li, Rafal Blechacz oder Martin Stadtfeld achten darauf, dass der Musikbetrieb sie nicht verheizt wie etwa Lang Lang. Unter diesen Jungen ist Levit nicht nur einer der Jüngsten, sondern auch der verrückteste. 2005 gewann er beim renommierten Rubinstein-Wettbewerb gleich vier Preise. Auf Youtube kann man es sich anschauen: ein dicker Junge, ein Riesenbaby, das die Fuge aus Regers Bearbeitung eines Telemann-Themas so keck, feinnervig und doch fast altersweise spielt, als habe da einer sein Musikerleben nicht vor, sondern schon ein Stück hinter sich. Das dicke Kind ist verschwunden, geblieben ist der hellwache Furor und die Unbedingtheit seiner Musik. Aber noch immer gibt es keine CD-Einspielung von ihm. Dabei hat die noble Londoner Agentur Harrison Parrott ihn längst unter Vertrag, neben Pierre-Laurent Aimard, Ashkenazy, Grimaud, Pollini oder Krystian Zimerman. Und für die kommende Saison sind Levit-Debüts in den großen Konzerthäusern Europas annonciert.

Es ist die Spiellust, die Levit treibt. Schon als Junge spielte er sich durch den Notenschrank der Eltern, nicht nur durch die Klavierliteratur. Seitdem kann er vom Blatt spielen, beherrscht für einen 24-Jährigen ein erhebliches Repertoire, hat kein Lampenfieberproblem, ist süchtig nach Auftritten, nach Resonanz. Seine Diabelli-Variationen (es gibt eine unveröffentlichte Aufnahme) bersten vor Energie und sind zugleich präzise gearbeitete Kleinode. Unerhört frisch das Thema, wie freigelegt unter Firnis, immens das Spektrum der Phrasierungen und Stimmungen, vom jugendlichen Elan über die Komik bis zu den transzendenten Momenten. Zorn und Zärtlichkeit wohnen dicht beieinander.

„Man spielt das, was man ist“, sagt Igor Levit. „Wer sich verstellt, hat nicht verstanden, was Musizieren bedeutet.“ Also paart sich seine Ungeduld mit Bedachtsamkeit: Auch Levit achtet darauf, dass der nimmersatte Konzertbetrieb ihn nicht auffrisst. Er entscheidet, ob er auftritt, niemand sonst.

Wir sitzen im Café „Zurück zum Glück“ unweit der Musikhochschule Hannover, Levit mag es wegen des Namens, der Bio-Speisekarte und der Käsekuchenherzen. Er redet schnell, er denkt laut, manchmal kommt man kaum nach. Igor Levit saugt die Welt auf wie ein Schwamm, hat drei Zeitungen abonniert (auch den Tagesspiegel), liest „Lettre“ und die „Titanic“, ist ständig online mit seinem Smartphone, süchtig nach Informationen, nach Kommunikation. Der Hunger, die Neugier, die Wachheit, sie sind seinem Spiel anzuhören.

Levit erzählt von seinen Musikerfreunden Lisa Batiashvili oder François Leleux, seinem guten Draht zum English Chamber Orchestra, seinen Lehrern Hans Leygraf im Salzburger Mozarteum oder Karl-Heinz Kämmerling und Bernd Goetzke in Hannover, von der Mühelosigkeit, mit der er auswendig lernt. Weil man Musik zuerst mit dem Kopf spielt? „Weil die Musik zuerst im Herzen da ist“, sagt er. Oh Gott, wie pathetisch, fügt er hinzu, gibt wenig später einen derben „Titanic“-Witz zum Besten, imitiert Dialekte und kommt auf Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“ zu sprechen. Er hat es gelesen und findet es gefährlich. Nicht wegen der Fakten, vieles hat er als Einwandererkind selbst erlebt, als die Familie im Ausländerviertel Roderbruch wohnte. Sondern wegen Sarrazins Schlussfolgerungen.

Auch musikalisch mag er Ausgrenzung nicht. „Beim Jazz klatschen sie mitten ins Stück, warum soll ein Klassikhörer, wenn er ergriffen ist, nicht in einer Sonate oder Sinfonie klatschen?“ Dünkel ist Levit fremd. Im April war er beim Lena-Konzert, es war cool, „eine authentische Veranstaltung“. Er hält es mit Shakespeare: „Künstler sind dazu da, um die Menschen zu unterhalten.“ Auf eine Weise, die die Erkenntnis mit einschließt. „Ich gebe gegenüber dem Werk mein Innerstes preis. Ich bin nackt vor dem Gesetz.“ Levit stockt: wieder so große Worte.

Er nennt es den Matthäuspassion-Effekt. Bachs Oratorium kennt er auswendig, „aber wenn das Volk Jesus einen Halbton höher kreuzigen lassen will und ,Barabam’ schreit, ist es jedes Mal von Neuem ein Graus.“ Im Konzert ist er manchmal von der Intensität seines eigenen Spiels aufgewühlt. „Ich bin mittendrin in der Musik, auch körperlich. Und ich höre 24 Stunden am Tag Musik im Kopf, auch jetzt, wenn wir reden, alle mögliche Musik.“

Da spielt ein 24-Jähriger statt Chopin und Rachmaninow (bei aller Verehrung) also lieber das Schwerste vom Schweren, Liszts „Hexameron“, Schostakowitsch, Cziffra oder Busonis Mammut-Klavierkonzert mit Männerchor, mag Lena und Herbert Grönemeyer und ärgert sich schwarz, dass es für den Konzertflügel keine Renaissancemusik gibt. Die frühe Mehrstimmigkeit eines Josquin Desprez, das ist das Höchste. „Von einem Ton zum anderen entsteht diese Ekstase, ohne jedes Brimborium, einfach unglaublich.“ Levit versteht nicht, warum ständig Vivaldi aufgeführt wird und selten Desprez. Im nächsten Moment sind wir bei Aerosmith.

Woher kommt die Unruhe? „Mein Lebensrhythmus ist, dass ich keinen habe.“ Die Neugier ist schuld, seine musikalische Abenteuerlust.

Innenleben, Außenwelt: Sein Klavierspiel schottet sich nicht ab vor dem, was geschieht. Als er im März in Mailand Schubert spielte, während in Japan die Erde bebte, musste er ständig an den alten Mann im Fernsehen denken, der auf einem klapprigen Fahrrad seine Frau sucht. An dem Abend hat er ausnahmsweise vor dem Konzert etwas gesagt, obwohl Statements für ihn nicht auf die Bühne gehören. „Musik ist keine Plattform“, sagt Levit. Aber in jedem Ton steckt die ganze Musik und in jeder Musik die Welt.

Am heutigen Donnerstag eröffnet Igor Levit mit Beethovens Diabelli-Variationen seine Konzertreihe „Veränderungen“ im Radialsystem (20 Uhr). Am 26. September spielt er im Konzerthaus Bach, Beethoven und Liszt.

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