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Ehrliche Haut. Erich Loest (1926-2013) auf einem Bild von 2001.

© dpa

Zum Tod von Erich Loest: Aufrechter Gang und Fenstersturz

Er war ein Chronist der deutsch-deutschen Geschichte, saß im Bautzener Gefängnis, ging in den Westen. Jetzt hat der unbeugsame Schriftsteller Erich Loest seinem Leben ein Ende gesetzt.

Stefan Heym erzählt am Ende seiner Autobiografie „Nachruf“ vom Besuch eines Reporters der „New York Times“, Alden Whitman, zu einem Interview. Etwas seltsam habe ihn dabei berührt, dass sein Besucher vor dem Gespräch ausführlich beteuerte, wie sorgfältig er fragen müsse, damit die Angaben noch in kommenden Jahrhunderten Historikern als Material dienen könnten. „Da begann mir’s zu dämmern: Ach, der Whitman sind Sie, und Sie besuchen mich, um mein Obituary zu schreiben, meinen Nachruf.“ Selbstverständlich für die Schublade!

Ein solcher Schubladentext war für Erich Loest nicht vorgesehen, trotz seiner Fragilität und seines hohen Alters von 87 Jahren und obwohl er 2011 ein „Letztbuch“ genanntes Tagebuch unter dem Titel „Man ist ja keine achtzig mehr“ veröffentlichte. Die Nachricht von seinem Tod am Donnerstag kommt überraschend, ein doppelter Schreck: Die Leipziger Polizei meldet einen Suizid, einen Sturz aus dem Krankenhausfenster, ob aus freiem Entschluss oder unter dem Einfluss von Medikamenten. Wer den stets – wie es in Sachsen heißt: „vigilanten“ – Autor am Werk sah, am Schreibtisch, im Fernsehen, auf Lesereisen oder im Schriftstellerverband, wollte gern an ein Wortspiel seiner Freunde in Ost und West glauben: Erich währt am längsten. Der Tagesspiegel zitierte es 1996 zu seinem 70. Geburtstag.

Vom Staatsfeind Nr. 1 zum Ehrenbürger

Da war Loest, 1981 nach 32 Jahren DDR und siebeneinhalb Jahren im Zuchthaus Bautzen II nach Osnabrück und Bad Godesberg übersiedelt, gerade im Begriff, nach Leipzig zurückzukehren. Diesmal nicht als Staatsfeind Nr. eins (oder zwei oder drei), sondern als baldiger Ehrenbürger, dessen große Romane „Völkerschlachtdenkmal“ (1984), „Zwiebelmuster“ (1985) und „Nikolaikirche“ (1995) die bewegte Chronik der Stadt und ihrer Menschen im geteilten Deutschland widerspiegeln. „Nikolaikirche“ wurde sein wohl größter Erfolg, am Drehbuch der Verfilmung von 1995 unter Regie von Frank Beyer wirkte er selber mit.

Sie spiegelten ihre Zeit allerdings nicht im Sinne des sozialistischen Realismus eines Autors wider, der diese Vokabel liebte und als Hauptaufgabe der Literatur lehrte, unter anderem am Leipzig Literaturinstitut, das er 1955/56 für ein kurzes Jahr besuchte. Nötig hatte er eine Schriftstellerlehre nicht, immerhin war er nach einem Volontariat als Journalist bei der „Leipziger Volkszeitung“ seit 1950 freier Schriftsteller, der schon zwei staatskonforme Bestseller, „Die Westmark fällt weiter“ (1952) und „Das Jahr der Prüfung“ (1954) sowie zahlreiche Erzählungen veröffentlicht hatte, darunter 1953 „Dienst an der Grenze“. Er war sogar kurze Zeit Vorsitzender des Leipziger Schriftstellerverbands, dessen späterer DDR-Präsident Hermann Kant wurde, mit dem Loest zwar eine geschmeidige Feder, sonst aber gar nichts teilte.

Die Uniklinik in Leipzig. Erich Loest hat sich aus einem Fenster im zweiten Stock gestürzt.
Die Uniklinik in Leipzig. Erich Loest hat sich aus einem Fenster im zweiten Stock gestürzt.

© dpa

Denn er war das, was man eine ehrliche Haut nennt, bei allen Windungen und Wendungen seines politischen und literarischen Lebenswerks. Den Einstand als Schriftsteller lieferte er schon 1950 mit dem Bekenntnisroman „Jungen, die übrig blieben“, der seine Kriegs- und Nachkriegserlebnisse als Soldat und fanatischer „Werwolf“ verarbeitet. Seit 1944, als kaum 18-Jähriger, Mitglied der NSDAP, trat er nach der Entlassung aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft 1947 in die SED ein. Als er nach dem XX. Parteitag der KPdSU wie sein damals bester Freund und Leipziger Kollege Gerhard Zwerenz für die Entstalinisierung der DDR eintrat, wurde er wegen „konterrevolutionärer Gruppenbildung“ verhaftet. Zwerenz gelang die Flucht nach Westen, Loest wurde zu siebeneinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt, die er bis auf sechs Monate („zur Bewährung“) absaß. Seine Autobiografie „Durch die Erde ein Riss“ (1981) berichtet darüber.

1979 protestierte Loest gegen die Ausbürgerung Biermanns, 1981 ging er in den Westen

Ehrliche Haut. Erich Loest (1926-2013) auf einem Bild von 2001.
Ehrliche Haut. Erich Loest (1926-2013) auf einem Bild von 2001.

© dpa

Bei seiner Entlassung ging noch immer ein Riss durch Deutschland, befestigt durch die Berliner Mauer. So „bewährte“ sich Loest als resozialisierter Schriftsteller mit unpolitischen Abenteuer- und Kriminalromanen unter verschiedenen Pseudonymen, bis er mit dem Roman „Es geht seinen Gang oder Mühen in unserer Ebene“ (1978) unter seinem legendären Klarnamen das vielleicht realistischste Buch über das realsozialistische Alltagsleben schrieb. Die erste Auflage wurde unter der Ladentheke des DDR-Buchhandels so schnell ausverkauft, dass die Partei- und Literaturverantwortlichen der DDR eine zweite Auflage zunächst blockierten. Sie wurde schließlich zähneknirschend erlaubt und in einem kleineren Verlag doch noch gedruckt.

Aber nach seinem Austritt aus dem DDR-Schriftstellerverband 1979, der auch die Unterzeichner des Protests gegen die Ausbürgerung Biermanns ausschloss, ging Erich Loest in den Westen und blieb auch nach Ablauf seines Dreijahresvisums. Über die zwiespältige Aufnahme auch bei den Kollegen im Schriftstellerverband der Bundesrepublik berichtete er 1997 in seinen Gedanken eines literarischen Grenzgängers: „Als wir in den Westen kamen“. Obwohl er sich aus politischen Querelen heraushalten wollte, geriet er doch bald in die Auseinandersetzungen im Schriftstellerverband über dessen Kontakte mit dem Verband der DDR. Hinzu kam das Zusammenspiel der Vorsitzenden Bernt Engelmann und Hermann Kant, die beide nach 1990 als IM der Staatssicherheit enttarnt wurden.

Erich Loest 2012 auf der Leipziger Buchmesse.
Erich Loest 2012 auf der Leipziger Buchmesse.

© dpa

Gemeinsam mit Günter Grass und weiteren 50 Autoren forderte und bewirkte Erich Loest den Rücktritt Engelmanns wegen dessen unsolidarischer Haltung zum Verbot des polnischen Schriftstellerverbands und der Gewerkschaft „Solidarnosc“. Selbst als Grass und seine Freunde aus dem VS austraten, harrte der zähe Sachse aus und erlebte die Genugtuung, 1994 selbst für drei Jahre zum VS-Vorsitzenden im vereinten Deutschland gewählt zu werden. Sein schönster Erfolg im Amt war die Initiative zur deutsch-polnischen Aussöhnung, ein Stück Wiedergutmachung für die Versäumnisse seiner Vorgänger. Noch einmal nach einer politischen Wende gehörte er, wenn auch angegraut, zu den „Jungs, die übrig blieben“.

Großes Bundesverdienstkreuz, Kommandeurskreuz des Verdienstordens der Republik Polen, Ehrendoktor der TU Chemnitz, Deutscher Nationalpreis, Akademiemitglied in Sachsen und zweimal Ehrenbürgerschaft in Leipzig sowie seiner Heimatstadt Mittweida – die Ehrungen, die ihm jetzt zuflogen, mag er mit einem skeptischen Lächeln quittiert haben – um weiterzuschreiben. „Lieber hundertmal irren“ heißt seine soeben erschienene 120Seiten-Nachkriegserzählung über die Anfänge der deutsch-deutschen Geschichte.

Sein alter, mit der Hin- und Rückwendung zur Nachfolgepartei der SED entfremdeter Freund Gerhard Zwerenz hat es einmal so beschrieben: Es „war gut. Es war ein echt sächsisches Lächeln, die Maske des kleinen Mannes, der seine Klugheit verbergen muss“. Dazu gibt es jetzt keinen Grund mehr. Über den Tod hinaus zeugen seine Bücher für Erich Loest, für seine Klugheit und seinen – um seinen Leipziger Zeitgenossen Ernst Bloch zu zitieren – aufrechten Gang. Um ihn selbst zu variieren: Er ging seinen Gang auch durch die Mühen der Ebene.

Hannes Schwenger

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