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Joachim Kaiser, Musikkritiker und Feuilletonist, der letzte deutsche Kritikerpapst. Er starb am 11. Mai 2017 mit 88 Jahren.

© Imago/Metodi Popowl

Zum Tod von Joachim Kaiser: Meinungshäuptling der deutschen Kulturnation

Er war der Musikpapst der Nachkriegsrepublik, einer der ganz großen deutschen Feuilletonisten, leidenschaftlich und konservativ. Nun ist Joachim Kaiser mit 88 Jahren gestorben. Ein Nachruf.

In Josef Haders wunderbarer Kulturbetriebssatire „Wilde Maus“ wird der Wiener Musikkritiker Georg beim Besuch eines japanischen Restaurants intensiv von einem jungen Asiaten hinter der Theke gemustert. Dieser ist, wie sich herausstellt, ein Pianist, dessen Karriere Georg einst durch einen besonders scharfen Verriss zerstörte und der nun als Hilfskellner sein Geld verdienen muss. Später im Film wird er Georgs Auto mit einem Vorschlaghammer demolieren.

Joachim Kaiser berichtete 2008 in einem „FAZ“-Interview ganz offen von einem ähnlichen Fall. „Es gibt mich nicht mehr“ habe ihm mal ein Klaviervirtuose gesagt – nach einer schlechten Kaiser-Rezension waren alle seine Engagements aufgekündigt worden. Den Kritikerpapst plagten darob keine Gewissensbisse. Weil nämlich vielmehr die Kulturdezernenten Schuld seien, die sich gegenüber mächtigen Rezensenten keine eigene Meinung erlaubten und jeden sofort fallenließen, sobald in der Presse irgendetwas Böses stünde. „Ich halte mich überhaupt nicht für eitel“ fügte der damals 80-Jährige hinzu, „sondern für arrogant. Alle Kritiker müssen so sein, weil sie Unbeweisbares mit ihrer Person vertreten müssen.“

Angst, seine Meinung zu sagen, hat der 1928 geborene Joachim Kaiser, der letzte deutsche Großkritiker, nie gehabt. Als Sohn eines masurischen Landarztes in großbürgerlichen Verhältnissen aufgewachsen, begeisterte sich der vielseitig Begabte früh für Musik, Literatur und Theater, führt sich nach der Flucht an einem Hamburger Gymnasium ein, indem er seinen Mitschülern Beethoven-Sonaten vorspielt, und pariert als Student in Frankfurt die Anmerkung Theodor W. Adornos, er habe Kaisers Vortrag nicht recht verstanden, mit den Worten: „Das will ich wohl glauben, Herr Professor“.

Joachim Kaiser schrieb seine Texte nicht, er diktierte sie

Mit 23 Jahren stößt der intellektuelle Frühstarter zur legendären Autorenvereinigung der Gruppe 47, diskutiert dort mit Günter Grass und Martin Walser, publiziert in führenden Zeitschriften der intellektuellen Elite wie den „Frankfurter Heften“ und dem „Monat“, arbeitet im Hessischen Rundfunk, promoviert und erhält 1959 eine Kulturredakteursstelle in der „Süddeutschen Zeitung“, wird später dort Feuilletonchef. Bis 1997 ist er offiziell im Amt, bleibt auch danach noch die gewichtigste Stimme „seines“ Blattes in Kulturfragen. Doch er verschmäht auch das Entertainment nicht, hat lange eine eigene Klassik-Kolumne in der „Bunten“, schreibt für den „Focus“ und tritt als Gast im „Literarischen Quartett“ auf.

Zu den sorgsam gepflegten Eigenheiten des Kritikerpapstes gehört, dass er seine Artikel nicht etwa eigenhändig niederschreibt, sondern sie diktiert, gewissermaßen extemporierend, aus der Überfülle seines Wissens und seiner Erfahrung schöpfend. Dabei pflegt er unablässig in seinem Büro herumzuwandern, an seiner Brille zu kauen und – wie Augenzeugen berichten – sich aus dem Augenwinkel zufrieden im Spiegel an der Wand zu betrachten.

Die Schriftsteller Martin Walser (v.l.), Günter Grass und Joachim Kaiser unterhalten sich im Juni 2007 bei einer Diskussionsrunde im Berliner Ensemble, 60 Jahre nach der Gründung der Gruppe 47.
Die Schriftsteller Martin Walser (v.l.), Günter Grass und Joachim Kaiser unterhalten sich im Juni 2007 bei einer Diskussionsrunde im Berliner Ensemble, 60 Jahre nach der Gründung der Gruppe 47.

© ddp/Axel Schmidt

Seine vielen Bücher – darunter der Kaiser-Klassiker „Große Pianisten unserer Zeit“ (1965) sowie der Mozartband „Mein Name ist Sarastro“ (1984) – und die zahllosen Zeitungsartikel werden von den Lesern mit Ungeduld erwartet – und von den Künstlern mit Herzklopfen. Wobei Kaiser nie zu Gift und Galle neigt, er verurteilt und verreißt nicht, sondern bewundert und verehrt, die Geigerin Anne-Sophie Mutter etwa oder auch Leonard Bernstein. Wie es sich für einen bekennenden Genussmenschen gehört.

Restlos hingerissen sind alle, wenn sie Kaiser seine eigenen Texte sprechen hören, in seinem charmant-charakteristischen ostpreußischen Singsang, bei den unzähligen Vorträgen, mit denen er durch die Republik reist, oder im Radio, bei „Kaisers Klassik“, wenn er Meisterwerke Takt für Takt analysiert. Es ist auch die Musik, für die er brannte, die Wiener Klassik, die Romantik, der Kanon.

Kaiser verteidigte die Werktreue, das Regietheater blieb ihm fremd

Es ist diese Musik seiner Sprache über Musik, die Kaiser eine treue Fangemeinde sichert. Der fühlen sich Weite Teile des Bildungsbürgertums zugehörig: Er ist ja ein Beschwörer des Guten, Wahren, Schönen, ein Wertkonservativer, der die Werktreue verteidigt und genau weiß, was sich bei Mozart, Schubert und Co. gehört und was nicht – und der im Zweifel auf den Besuch im geliebten Bayreuther Festspielhaus verzichtet, wenn er befürchten muss, dort mit modernem Regietheater konfrontiert zu werden. Joachim Kaiser hält es in Kunstangelegenheiten stets mit Goethe: „Was du ererbt von deinen Vätern, erwirb es, um es zu besitzen.“

„Ich bin der letzte Mohikaner“, wie der Titel seiner Biografie lautet, die Tochter Henriette Kaiser verfasste, ist also gar nicht so selbstironisch gemeint, wie es auf den ersten Blick scheinen könnte. Nein, er passt zu dieser Instanz, Meinungshäuptling und Sitting Bull der deutschen Kulturnation. Fürs „Süddeutsche“-Magazin ließ er sich dann tatsächlich mit vollem Indianer-Kopfputz ablichten.

Einen wie Kaiser wird es in der heutigen Medienlandschaft nicht mehr geben

Er hat die anderen deutschen Großkritiker überlebt, Marcel Reich-Ranicki, Hellmuth Karasek und Fritz J. Raddatz. Einen wie ihn wird es in der modernen Medienlandschaft nicht wieder geben, nicht mehr geben können. Nach langer Krankheit ist Joachim Kaiser am Donnerstag im Alter von 88 Jahren in seiner Wahlheimat München gestorben.

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