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Geschichtsträchtiger Sitz: Vom Funkhaus Berlin am Hans-Rosenthal-Platz aus sendet das Deutschlandradio Kultur. Der Deutschlandfunk ist in Köln angesiedelt. Foto: Imago

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20 Jahre Deutschlandradio: Das Vereinigungsradio

Vor 20 Jahren entstand das Deutschlandradio unter heftigen Geburtswehen. Jetzt ist es der meistzitierte Sender der Republik.

1. Januar 1994. Jahreswechsel. Im vereinigten Deutschland wird die Nacht für 140 Millionen D-Mark illuminiert. Der Rhein hat Hochwasser. Auch in Niedersachsen gibt es Überschwemmungen. Das Wetter ist zu warm für die Jahreszeit. Spitzenmeldung der Neujahrs-„Tagesschau“: die Entstehung der Bahn AG aus Bundesbahn und Reichsbahn. Präsident Weizsäcker fordert mehr Bürgerbeteiligung. Bosnienkrieg – Beschuss von Sarajewo. Die Geburt des Deutschlandradios in Köln und Berlin, entstanden aus dem Deutschlandfunk (Köln), dem Rias (Rundfunk im amerikanischen Sektor Berlin) und dem Deutschlandsender Kultur (Kind des Runden Tisches 1990 in der noch existierenden DDR) ist keine Nachricht wert.

Später werden es acht Millionen Menschen regelmäßig einschalten, und es wird das meistzitierte Radio in Deutschland sein. Heute wissen wir: Vor 20 Jahren gab es eine Sternstunde für die Hörerinnen und Hörer in diesem Land.

Aber das merkt kaum einer. Der Deutschlandfunk ändert sein Programm erst einmal nicht. Der Zwilling Deutschlandradio Berlin dagegen (jetzt Deutschlandradio Kultur) erlebt eine höchst schmerzhafte Geburt im faktisch noch immer geteilten Berlin. Und es wird gar nicht freudig begrüßt, im Gegenteil: Das neue Programm besteht zur einen Hälfte aus dem recht populären Rias-Programm und zur anderen aus den gehaltvoll-edlen Teilen von DS Kultur, und diese Mischung kommt weder bei der einen noch bei der anderen Hörerschaft an. Es knirscht hässlich im alten, nun gemeinsam bewohnten Rias-Funkhaus am Hans-Rosenthal-Platz.

Wende-Geschichten

Es gibt so viele Wende-Geschichten. Diese ist nur eine von ihnen, und sie beginnt so: Rundfunk in der Bundesrepublik Deutschland ist Ländersache. Die Sonderregelungen für den Deutschlandfunk und den Rias laufen nach der Wende aus. Der Rundfunk der DDR wird abgewickelt, auch der gelungene Spätling DS Kultur aus der Nalepastraße in Oberschöneweide kann im bundesrepublikanischen Rechtssystem nicht untergebracht werden. Was tun? Alle abwickeln, auch den Deutschlandfunk (das war schnell vom Tisch)? Eingliederung in den ARD-Hörfunk? Bundesrundfunk zum Bundesfernsehen ZDF? Und was sollte werden aus den zwei Chören, den beiden Orchestern, die zur Substanz der Radios in Ost und West gehörten? Was tun mit dem Rias-Tanzorchester? Juristen, Medientheoretiker, Finanz- und Kulturpolitiker zerbrechen sich (und anderen) die Köpfe. Und schließlich, nach fast drei Jahren Diskussion, unterzeichnen am 17. Juni 1993 die Ministerpräsidenten der 16 Bundesländer und der damalige Bundesinnenminister Rudolf Seiters den Gründungs-Staatsvertrag für das Deutschlandradio. Ein paar Tage vorher – was für ein Glück! – entsteht die Rundfunkorchester- und -Chöre GmbH mit allen fünf Klangkörpern – Rundfunkchor und Rundfunk-Sinfonie-Orchester Berlin aus dem Osten, Rias-Kammerchor, Deutsches Symphonie Orchester und das Rias-Tanzorchester, das später ausscheidet, aus dem Westen.

Monika Künzel, Noch-Leiterin von DS Kultur, und Siegfried Buschschlüter, Noch-Programmdirektor des Rias, müssen den Start am 1. Januar 1994 in aller Hektik organisieren. Eine neue Führungsriege für das Deutschlandradio gibt es, wegen der unsicheren Rechtslage, erst im neuen Jahr. ZDF-Chef Dieter Stolte amtiert als Gründungsintendant, bis im April 1994 Intendant Ernst Elitz antritt. Die neuen Programmdirektoren – Günter Müchler für den DLF und ich für Deutschlandradio Berlin – sind ab Mai 1994 dabei.

Viele "Altinsassen" fühlen sich von der Fusion bedrängt

Was aber geschieht ab Januar 1994 im Schöneberger Rias-Funkhaus? 164 Menschen aus dem Osten der Stadt haben täglich weite, beschwerliche Wege im Berlin der ersten Nach-Mauer-Jahre zu bewältigen. Sie ziehen ein in ein viel zu kleines Funkhaus. Christian Wagner, ingeniöser Verwaltungsdirektor, lässt quasi jeden Quadratmeter im Haus belegen. Möbel gibt es, aber was ist mit Telefonen, Schreibmaschinen? Da ist noch kein Mobilfunk, gerade mal ein kleines Computer-Nachrichtenverteilsystem. Das stimmt nicht mit dem im Kölner Funkhaus überein. So weit ein Blick auf die praktische Seite. Was ist mit der psychologischen? Immerhin – ein paar wenige Kolleginnen und Kollegen aus Ost und West haben sich schon vorher getroffen, kennen sich ein bisschen. Die meisten aber nicht. Viele „Alt-Insassen“ fühlen sich von der Fusion schwer bedrängt. Das böse Wort von den „roten Socken“ kursiert. Von Begeisterung, gar von Zauber des Anfangs keine Spur.

Und sie wissen: Nicht alle können auf Dauer bleiben. Zwei Vollprogramme mit entsprechender Beschäftigtenzahl werden zu einem verschmolzen. Es ist klar, die Zahl muss herunter. Im Berliner Programm um rund 40 Prozent bis Ende 1996, innerhalb von zwei Jahren also. Das gelingt tatsächlich, wenn auch in einem schwierigen Prozess mithilfe guter Tarifverträge zum Vorruhestand.

Und über allem die Hauptaufgabe – das Programm. Ab 1995 ein neues. Es wird ein Voll-, kein Spartenprogramm sein. Natürlich weder eine Kopie des DLF noch eine der rund 20 schon vorhandenen Kulturprogramme der ARD. So soll das neue Programm sein: Hochwertig, zugleich verlockend, informativ und unterhaltend. Im Gegensatz zum „Menü“-Angebot des Deutschlandfunks (Einschaltprogramm) ein „Buffet“ (Begleitprogramm). Ein Programm für die ganze Republik. Ein Vereinigungsradio. Eines, das Brücken baut zwischen Ost und West und Nord und Süd. Mit einem internationalen Tages-Musikprogramm aus Pop und Klassik, dem damals noch besonderen Crossover. Mit Schmankerln wie den Kurzhörspielen zum Beispiel, den „Wurfsendungen“. Mit Anker-Frauen und -Männern mit hoher Vermittlungskompetenz.

"Für uns waren es Sternstunden"

1994/1995. Wieder ein Jahreswechsel. Und diesmal ein fröhlicher. Egal, wie viel das Feuerwerk in dieser Nacht gekostet hat. Für uns waren es Sternstunden. Sie überstrahlten alle Mühen der Ebene. Zum Beispiel, dass Deutschlandradio Berlin, weit abgeschlagen hinter dem DLF, nur sehr langsam und nur durch zähe Kämpfe von Ernst Elitz, später von Willi Steul, sein Sendegebiet erweitern konnte. Auch ein Familiengefühl mit dem Kölner Zwilling DLF war nicht einfach zu verordnen. Er wollte gern der große Bruder der kleinen Berliner Schwester bleiben. Tempi passati. Nein, ein kleiner Bruder ist in Köln dazugekommen – DRadio Wissen im Internet und im digitalen Radio. Eine Reaktion auf die sich rasant ändernde Medienwelt. Ein Versuch, an die Nutzungsgewohnheiten der Internetgeneration anzudocken. Wie schön, wenn es gelänge.

Deutschlandfunk und Deutschlandradio Kultur arbeiten ständig an Verbesserungen. Die Aufgabe bleibt ja, nicht nur hochwertige Programme zu machen mit all den seriösen Nachrichten, den klugen Hintergrundinformationen, den nachdenklichen Kommentaren, den einfallsreichen, künstlerischen Produktionen in Wort und Musik, den lustig-ernsten Kinderprogrammen. All diese Angebote sollen doch möglichst viele Menschen, junge und alte, erreichen! Das war nie leicht. Aber das Deutschlandradio hat so gute Rahmenbedingungen, so gute Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Es gibt bei aller notwendigen Sparsamkeit immer noch ausreichende finanzielle Mittel. Es kann, es muss, es wird weiter erfolgreich sein.

Das wünsche ich ihm – und mir auch. Und viel Glück zum Geburtstag!

Die Autorin Gerda Hollunder war von 1994 bis 2004 Programmdirektorin von Deutschlandradio Kultur.

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Gerda Holl, er

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