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Kritik: Eine Stadt sucht ein paar Mörder

„Im Angesicht des Verbrechens“: Dominik Graf hat auf der Berlinale sein grandioses Fernsehkino vorgestellt. Von Dienstag an läuft es bei Arte.

Schon die Zahlen dieser Fernsehserie sind beeindruckend: Zehn Folgen, knapp 500 Minuten Länge, 115 Drehtage, fast zwei Jahre Produktionszeit, 140 Sprechrollen, ein multiethnisches Figurenensemble aus Russen, Ukrainern, russischen Juden, Deutschen, Türken, Weißrussen, Polen und Rumänen. Doch tote Fakten und Buchstaben im Drehbuch müssen erst einmal zum Leben erweckt werden. Und das kann in Deutschland kaum einer so gut wie Dominik Graf. Mit seinem Zehnteiler „Im Angesicht des Verbrechens“ – bei der Berlinale am Wochenende bejubelt – bewegt sich Graf auf seinem Lieblingsterritorium: dem Grenzgebiet zwischen Recht und Unrecht.

Auf der einen Seite steht die Berliner Polizei. Weil sein Bruder zehn Jahre zuvor erschossen worden war, hat sich der aus Lettland stammende, in Deutschland aufgewachsene russische Jude Marek Gorsky (Max Riemelt) zum Ermittler ausbilden lassen. Er wird deshalb von den Russen als Müll beschimpft. Sein Partner ist der liebenswerte Schrank Sven Lottner (Ronald Zehrfeld), der ständig Erdnüsse kaut und das Herz auf der Zunge trägt. Jenseits der Demarkationslinie des Gesetzes bewegen sich die verfeindeten Russenmafia-Clans um Mischa (Misel Maticevic) und Andrej (Mark Ivanir). Ihre Reiche spannen sich vom Funkturm bis zum Fernsehturm, sind aber vor allem in Charlottenburg, Halensee und im Westend verdichtet. Die Gangster verdienen ihr Geld mit illegalem Zigarettenhandel, Drogen, Menschenschmuggel und Prostitution. Im grauen Grenzbereich schließlich taumeln die jungen Ukrainerinnen Jelena (Alina Levshin) und Swetlana (Katja Nesytowa) umher. Sie wurden nach Berlin gelockt und müssen nun als Edel-Callgirls anschaffen.

Alle drei Gruppen sind miteinander verstrickt. Diese Verwicklungen erst einmal zu etablieren, ist nicht einfach. Das mag ein Grund sein, warum die Serie anfangs ein wenig zu laut und schnell und aufgeregt daherkommt. Doch spätestens in der dritten Folge packt Graf sein Publikum am Kragen und lässt es nicht mehr los. Der Höhepunkt ist eine Fluchtszene in der neunten Folge, bei der Graf sein Suspense-Handwerk in einem weißrussischen Wald spektakulär zur Schau stellt. Zwischendrin lockert er den Griff gelegentlich und gibt dem Zuschauer Luft zum Lachen. Die Tollpatschigkeit der Streifenpolizisten dient dazu ebenso wie die pointierten Kurzdialoge von Lottner und dem LKA-Einsatzleiter Roeber (Arved Birnbaum). Als ihn sein künftiger Chef beim Einstellungsgespräch fragt „Woher kommste, was kannste?“, schleudert ihm Lottner blitzschnell entgegen: „Na ja, ick komm aus’m Osten der Stadt – ick kann praktisch allet.“ Dass die Serie an wenigen Stellen unpassend groteske Töne anschlägt – geschenkt. Dass sie die Figuren zu eindeutig in gut und böse aufteilt – verkraftbar.

Denn „Im Angesicht des Verbrechens“ spielt andere Trümpfe aus. Dominik Graf liebt Filme, die pochen und pulsieren, in denen das Leben tobt und wütet und deliriert. Seine Figuren ernähren sich deshalb vor allem von Champagner, Kaviar, Koks und immer wieder Wodka, Wodka, Wodka. Es wird gesoffen und gekotzt, geprügelt und gemordet, geliebt und gevögelt. Dabei kommen dem Regisseur, der schon immer Interesse für Macho-Subkulturen gezeigt hat, auch die aggressive Männlichkeit und das traditionelle Geschlechterverständnis der russischen Mafiosi entgegen. Darüber hinaus bauen Graf und sein kongenialer Drehbuchautor Rolf Basedow Szenen ein, die in ihrer barocken Bizarrerie weit über das herausgehen, was man aus deutschen Film- und Fernsehproduktionen kennt. Einmal sieht man eine Gruppe ukrainischer Prostituierter – splitternackt! – beim Tontaubenschießen. Am Geburtstag seiner Frau sagt sich der Obergangster Mischa: Für sie soll’s rote Rosen regnen, woraufhin ein Hubschrauber tausende Blütenblätter vom Himmel flattern lässt. Das ist barockes Fernsehen, das im spannungsvollen Kontrast steht zum asketischen Reduktionismus der Berliner Schule (die auf der Berlinale ebenfalls mit Kriminalfilmen vertreten war: Thomas Arslans „Im Schatten“ und „Der Räuber“ von Benjamin Heisenberg).

Dazu gehört für Graf, dem großen Fan des 70er-Jahre-Kinos, immer auch ein bestimmter Inszenierungsstil: rasante Zooms, Jump-Cuts, Zeitlupen und Schnitte, die weiß aufblitzen und unterlegt sind mit dumpfen Beats. Sogar das Splitscreen-Verfahren wird am Anfang der siebten Folge wiederbelebt, als wollte Graf sagen: Die Sprache des Films ist viel reicher, als ihr denkt, ihr Langweiler da draußen. Typisch sind auch die dynamisierten Dialogszenen: Wo andere mit klassischem Schuss-Gegenschuss arbeiten, schneidet Graf bei Unterredungen auf Nebenschauplätze und erzielt damit einen atmosphärischen Zugewinn.

Womit wir beim Stichwort „Authentizität“ wären. Trotz aller luftigen Künstlichkeit ist die Serie im Hier und Jetzt geerdet. Dazu gehört der Berliner Dialekt der Polizisten. Dazu gehören die langen untertitelten Passagen der Einwanderer auf Russisch. Und dazu gehört vor allem die Detailgenauigkeit – von den Drehorten in Berlin und Osteuropa über die Tätowierungen der Russenmafia bis hin zum Ritual einer jüdischen Sabbat-Feier. Im Zusammenhang mit dem 57-jährigen Dominik Graf wird gerne der Begriff „TV-Kino“ verwendet. Das war bislang nicht falsch. Aber erst mit diesem Zehnteiler kann Graf den großen Vorteil des Fernsehens wirklich nutzen: die Zeit. Sein breit angelegtes, weitverzweigtes Polizei- und Gangsterepos ist großes, grandioses Fernsehkino.

„Im Angesicht des Verbrechens“ läuft ab 27. April auf Arte und ab 22. Oktober in der ARD.

Julian Hanich

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