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Volles Rohr. Amerikanische Artilleristen beschießen im September 1918 die deutschen Stellungen bei Verdun. Foto: France Presse Voir/AFP

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1914 und die Folgen: Deutschlands falsches Gedenken an den Ersten Weltkrieg

Die deutsche Regierung will den anderen Europäern ihre Version des Ersten Weltkriegs aufzwingen. Doch aus deren Sicht ist es alles andere als gleichgültig, wer gewonnen und wer verloren hat. Schon gar nicht darf der Kriegsbeginn 1914 für die Idee der Europäischen Union instrumentalisiert werden.

Überall in Europa wird gerade der Krieg vorbereitet. Es ist nicht derselbe Krieg. Die Deutschen blicken auf 1914 zurück und sehen darin die Geburtsstunde der Europäischen Union. In den meisten anderen Ländern Europas bleibt der Erste Krieg dagegen weiterhin das, was er immer gewesen ist: eine Katastrophe, die 20 Millionen Menschen das Leben gekostet hat – und die von den Deutschen ausgelöst wurde.

Einig ist sich Europa auch im Blick zurück noch immer nicht. Das Vorhaben der deutschen Regierung, den Ersten Weltkrieg in ein neues Narrativ einfügen zu wollen, ist deshalb besonders naiv. Denn wie soll das Plädoyer, nach vorn zu schauen, anders auf die Europäer wirken als ein Versuch, das Thema zu wechseln? Als ein erinnerungspolitischer Sonderweg, auf dem man kurz vor der Schuldfrage wieder einmal abbiegt?

Aus deutscher Sicht ist schon lange nicht mehr wichtig, wer all die Kriege gewonnen oder verloren hat. 2005 und 2010 setzten sich Gerhard Schröder und Angela Merkel in Moskau bei der Siegerparade zum Ende des Zweiten Weltkriegs einfach mit auf die Tribüne. Damals waren dann alle Gewinner, auch die Deutschen, weil sie ja von Hitler befreit wurden. Umgekehrt werden nun beim Ersten Weltkrieg alle zu Verlierern: Im August warben deutsche Diplomaten in London dafür, im kommenden Jahr doch lieber weniger über das Trennende zu reden und dafür zu betonen, wie groß unser aller Opfer war. Die Frage, wer schuld war „und all das“, betonte der Sprecher der deutschen Botschaft in London, solle man doch den Historikern überlassen. „Ob Sieg oder nicht, es hat sich nicht gelohnt.“

Doch aus britischer Sicht, und auch aus französischer oder amerikanischer, ist es bis heute alles andere als gleichgültig, wer verloren und wer gewonnen hat. Man kann aus einem Krieg, in dem sich Menschen gegenseitig abgeschlachtet haben, im Nachhinein auch kein Gemeinschaftserlebnis machen. „Es geht nicht darum, Deutschland zu ärgern“, sagte der Oxford-Historiker Hew Strachan dem „Daily Telegraph“. „Aber wenn wir ehrlich mit der Geschichte dieses Krieges aus einer britischen Perspektive umgehen, dann kann sich nicht alles nur um Opfer und Sinnlosigkeit drehen. Viele Menschen haben in dem Glauben gekämpft, dass es lohnenswert ist. Wir müssen diese Motivationen respektieren.“

Den Ersten Weltkrieg neu zu kontextualisieren, ist schließlich das Gegenteil einer Historisierung: Es ist Ausdruck einer Verweigerung, sich der Geschichte zu stellen. „Don’t mention the war“ – erwähnt nicht den Krieg –, warnt John Cleese als Hoteleigentümer seine Mitarbeiter, weil er den deutschen Gästen das Thema ersparen will. 1975 war das noch Fiktion in der BBC-Serie „Fawlty Towers“. Inzwischen spielen die Deutschen selbst die Rolle von Gästen, die nicht mit der Vergangenheit konfrontiert werden wollen: Sprecht bitte nicht über den Krieg.

Ist der deutsche Versuch, aus 1914 eine Art Naturkatastrophe zu machen, die damals über alle gleichermaßen hereinbrach, noch naiv, so ist die andere Strategie im Umgang mit dem Jahrestag geradezu infam. Als Guido Westerwelle vor einer Woche in Bonn die Ausstellung „1914 – die Avantgarden im Kampf“ eröffnete, zog er eine direkte Linie von 1914 zur europäischen Einigung: „Die Europäische Union ist eine Friedensunion nach innen und nach außen.“ Er fuhr fort: „Kooperation kann anstrengend sein. Wer aber die Folgen von Konfrontation kennt, die Bilder dieser Ausstellung sprechen eine klare Sprache, der weiß, dass Kooperation jede Mühe wert ist.“

Die Botschaft ist klar: Wer bei der EU nicht kooperiert, gefährdet die europäische Friedensunion. Diese Botschaft stößt nicht nur bei den Briten – verständlicherweise – auf wenig Gegenliebe. Denn dieses Narrativ setzt eine Kausalität voraus, die von 1914 über Versailles und über Hitler zur EU verläuft und für die demnach nicht nur die Deutschen Verantwortung tragen.

So populär diese Sicht hierzulande inzwischen sein mag, so naiv ist es, anzunehmen, dass sie außerhalb von Deutschland weit verbreitet wäre. Dass sich gerade der deutsche Außenminister in den Kopf gesetzt hat, Europa eine neue Interpretation seiner eigenen Geschichte vorzulegen, ist absurd. Anderswo werden Westerwelles Worte als eine ideologische Instrumentalisierung des Kriegs wahrgenommen. In der Kurzversion könnte das heißen: Niemand ist umsonst an Gas krepiert, weil wir dadurch den Euro bekommen haben.

Die Deutschen lesen seit zwei Monaten mit großem Vergnügen ein neues Buch über den Ersten Weltkrieg: „Die Schlafwandler“. Darin stellt der australische Historiker Christopher Clark die These auf, dass das Deutsche Reich genauso viel oder wenig Schuld am Ausbruch des Krieges hatte wie Frankreich, England oder Russland. Seit Wochen steht das Buch in Deutschland auf den Bestsellerlisten, fast 100 000 Mal hat es sich bereits verkauft.

Die deutsche Regierung sollte sich die Verkaufszahlen des Clark-Buchs im Rest von Europa anschauen, bevor sie weiter versucht, dem Ersten Weltkrieg eigenmächtig ein neues Narrativ zu verschaffen und mit dem Gedenken Politik zu betreiben.

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