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Rabbiner errichten 2012 eine Chanukkia zur Vorbereitung der Chanukkawoche in Berlin. In diesem Jahr beginnt Chanukka am 28. November.

© AFP

Erinnerung an Pogromnacht 9. November 1938: Wissen, was war - und ist

Pogromnacht, Golfkrieg, Grass-Gedicht: Die Unbehaustheit der Juden in Deutschland fing weder 1938 an, noch hörte sie nach dem Krieg auf. Der Bogen der deutschen Vergangenheit reicht bis in die Gegenwart. Damit ist so mancher überfordert.

Dieser Text ließe sich bitter beginnen. Etwa mit der Erfahrung von Juden in Deutschland, plötzlich alleine zu sein. Dann könnte ein Bogen gespannt werden vom 9. November 1938 bis nach Auschwitz. Erst erzwungene Unbehaustheit, dann erlittener Massenmord.

Weil aber auf den Massenmord die Empathiearmut folgte, wurde das Gefühl der Unbehaustheit nach dem Krieg weiter genährt. „Der frisch ungetrübte Blick ins Zukommende fällt mir um genau so viel zu schwer, wie die

Verfolger von gestern ihn sich zu leicht machen“, schrieb damals Jean Améry. Erinnert sei daher an die erst unkritische Israel-Begeisterung (bis 1967), dann unkritische Palästinenser-Solidarität (ab 1967), das Fassbinder-Stück „Der Müll, die Stadt und der Tod“, die weißen Bettlaken während des ersten Golfkrieges, als Saddam Hussein Raketen gen Israel schickte, die allseits beklatschte Rede von Martin Walser in der Paulskirche über die „Dauerrepräsentation unserer Schande“, das satanische Gedicht von Günter Grass („Was gesagt werden muss“) und dessen Lobpreisung durch Jakob Augstein, die Beschneidungsdebatte, der neu-alte Antisemitismus, der „kritische Dialog“ mit dem Iran, einschließlich der guten Geschäfte.

Die Musealisierung der Vergangenheit beschleunigt eine Entemotionalisierung

Wer über den 9. November spricht und über diese Dinge schweigt, betreibt exkulpierende Historisierung. Der Bogen der deutschen Geschichte reicht bis in die Gegenwart.

Dieser Text ließe sich auch resignativ beginnen. All das Erinnern führt ja zu nichts. Ob 27. Januar, 8. Mai oder 9. November, ob Stolpersteine, Mahnmale oder Gedenkstätten: Die Musealisierung der Vergangenheit beschleunigt ihre Entdramatisierung und Entemotionalisierung. Die Toten mahnen – aber wen und wovor? Das wird immer nebulöser. Früher war das einfach. Aus dem „Nie wieder!“ folgte der Pazifismus, das Asylrecht, das Sich-Abfinden mit der deutschen Teilung, das Europabekenntnis, das Nein zur Volkszählung, das Ja zum Datenschutz, die antiautoritäre Erziehung. Wer die richtige Lehre aus dem Gestern zog, fand sich im politischen Heute zurecht. Die Vergangenheit als Kompass.

Inzwischen reduzieren sich die Sensorien auf den Besuch eines Bundespräsidenten in Yad Vashem. Das Fell der Deutschen ist dicker geworden.

Der Blick auf Irans Atomwunsch kommt ohne Hitler aus

Das freilich ließe sich auch ins Positive wenden. Zunehmend ist die deutsche Vergangenheit dagegen immun geworden, pädagogisch überhöht und politisch instrumentalisiert zu werden. Selbst Warnungen vor dem Atomprogramm des Iran kommen ohne Rekurs auf Hitler aus. Die entpathetisierte Darstellung des Konflikts überzeugt argumentativ sogar eher als die historisch ummantelte. Ganz nackt beschrieben: Eine religiös-fundamentalistische Diktatur bedroht ein demokratisch verfasstes Land mit dessen Vernichtung.

Soll diese Diktatur Atomwaffen haben dürfen? Diese Frage lässt sich von humanen, vernunftbegabten Wesen eigentlich nur verneinen. Dass es dabei außerdem um Israel geht, die Heimstatt der Juden, unterstreicht allenfalls das Nein, begründet es aber nicht. Aus der Pflicht zu wissen, was war, folgt die Pflicht zu wissen, was ist. Vielleicht ist diese Pflicht das Letzte und Einzige, was den Deutschen von ihrer Vergangenheit aufgetragen wurde.

Der von Träumen und Visionen entblößte Blick auf die Realität, die Skepsis gegenüber Weltbeherrschungs- und Verschwörungstheorien, die Wertschätzung von Meinungs- und Religionsfreiheit. Mag sein, dass das wenig ist. Mag sein, dass sie damit überfordert sind.

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