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Abschied von Schloss Bellevue: Bundespräsident Joachim Gauck und seine Lebensgefährtin Daniela Schadt

© dpa/Bernd von Jutrczenka

Abschied vom Bundespräsidenten: Warum Joachim Gauck zu früh geht

Der scheidende Bundespräsident stand für einen positiven Verfassungspatriotismus. Gerade im Streit mit der Türkei hätten die Deutschen noch von ihm lernen können. Ein Kommentar.

Von Anna Sauerbrey

Samstag ist Joachim Gaucks letzter Tag als Bundespräsident. Es ist ein schlechter Zeitpunkt zu gehen. Er wird fehlen. Die Debatte um Auftrittsverbote für türkische Politiker in Deutschland zeigt so klar wie selten: Die Deutschen sind von echtem Verfassungspatriotismus, von einem Verfassungspatriotismus, wie sie ihn von Joachim Gauck hätten lernen können, so weit entfernt wie eh und je.

Der Bundespräsident ist so etwas wie der Wächter des deutschen Nationalnarrativs. Er kann, wenn er gut ist, den Deutschen eine Erzählung schenken, kann ihnen sagen, wer sie sind, und wer sie sein könnten. Joachim Gauck hat es verstanden, aus der aufgewühlten deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts eine optimistische Identitätserzählung für Deutschland zu formen – aus der Geschichte der Deutschen eine Geschichte für die Deutschen zu machen. Er hat sie glaubhaft erzählt, denn er hat sie gelebt.

Und doch scheinen Gaucks Reden nicht so recht verfangen zu haben. Die Deutschen hadern wie eh und je damit, ein gesundes Verhältnis zu ihrem Staat zu haben.

Joachim Gauck, geboren 1940, Sohn eines Vaters, der mehrere Jahre in einem sowjetischen Gulag verbrachte, ist einer der wenigen im öffentlichen Leben in Deutschland, der noch weiß, was der Verlust von Freiheit bedeutet – und wie sich die Euphorie anfühlt, sie zu gewinnen. Ostdeutsche sind seit jeher im öffentlichen Leben unterrepräsentiert. Und die Zeitzeugen des Nationalsozialismus sterben. An Gauck aber spürt man die Wucht der deutschen Geschichte. An ihm ist eine Leidenschaft für die Freiheit, die viele Deutsche vermissen lassen.

„Freiheit, normal geworden, scheint ganz banal."

In einem Interview mit der „Zeit“ hat Gauck einmal gesagt: „Freiheit, normal geworden, scheint ganz banal.“ In Deutschland ist die Freiheit normal geworden. Und aus dieser saturierten Verachtung des Gegenwartsglücks entsteht Nörgelei. Demokratie? Zu langsam, zu aufwendig, zu ineffizient.

Die neue Rechte wittert die Mattigkeit ihrer Beute und schwadroniert von einer spät-liberalen Ära des Niedergangs, der Auslaugung, der Schwäche, in der Gewissheit, ein Gefühl zu treffen, auch, wenn das eigentlich keine Beschreibung des Seelenzustand des Landes ist, sondern vielmehr eine Beschreibung des Seelenzustands seiner Bewohner.

Joachim Gauck hat versucht, dem eine optimistische Ich-Erzählung für Deutschland entgegenzustellen. Er betonte die Bedeutung der nationalsozialistischen Gräueltaten, hob aber auch die Selbstbefreiung der Ostdeutschen als ein Fest der Freiheit hervor. Er versuchte (ohne großen Erfolg), die erkämpfte Freiheit von 1989 im öffentlichen Bewusstsein gegenüber der geschenkten Freiheit von 1945 zu stärken, Freiheit mit optimistischeren Gefühlen zu verbinden, sie zu etwas Eigenem zu machen. Verfassungspatriotismus beschrieb Gauck als Gefühl eher denn als intellektuelle Einsicht. Doch den meisten Deutschen geht ein positiver, selbstbewusster Verfassungspatriotismus weiterhin ab.

Deutschland ist tief zerissen

Im Konflikt mit der Türkei zeigt sich wieder einmal eine seltsam schizophrene Haltung gegenüber autoritären Systemen. Erdogan wird für seine Pläne für einen Verfassungsumbau in der Türkei verdammt. Doch die Reaktion auf die billigen Provokationen des türkischen Präsidenten trägt selbst autoritäre Züge. In der Erdogan-Abwehr verbinden sich linksliberal-moralische Empörung über die demokratieunfähigen türkischen Hinterwäldler mit der bürgerlichen Sehnsucht nach einem starken Staat und dem Ranwanzen der Konservativen an die rechte Rhetorik zu einem unguten nationalchauvinistischen Crescendo. „Kuscheln mit Erdogan verhöhnt die Demokratie“, schreibt AfD-Frau Frauke Petry. „Feigheit!“ rufen auch andere AfD-Politiker. Auch Deutschland habe eine „Ehre“, sagte Kanzleramtsminister Peter Altmaier am Mittwoch und dass er „stolz“ sei auf den Deutschen Rechtsstaat, der unübertroffen sei.

Echt jetzt? Stolz und Ehre und wir über allen? Ist das das neue, selbstbewusste Deutschland?

Die deutsche Verfassung und der deutsche Rechtsstaat sind die Ersatz-Nationalheiligtümer, die in den Himmel gehoben werden, um zu verschleiern, was der ganze Bohei um Erdogan wirklich ist: Eine weitere deutsche Identitätskrise.

Deutschland, tief zerrissen zwischen großer humanitärer Geste und Multikulturalismusangst, zwischen weltpolitischer Anforderung und realem Kleinmut, dreht den Testosteronhahn auf und trommelt sich auf die schmale Brust.

Populismus als Chance die eigene Identität zu schärfen

Auch Joachim Gauck fand, man müsse nicht alles zulassen in Deutschland. Doch er fügte hinzu: „Sind wir, die demokratische Mitte, so schwach, dass wir die Argumente derer, deren politische Auffassung wir nicht teilen, so fürchten müssen, dass wir ihr öffentliches Wort verhindern müssen?“ Er sagte das ganz leise.

Der Populismus könnte die Chance sein, Gaucks positive Gegenerzählung anzunehmen, die eigene Identität zu schärfen als ein Land, das den Autoritarismus perfektioniert, erfahren und überwunden hat und ihm deshalb heute mit Verstand und Mut entgegentritt. Auch nach dieser Geschichte gibt es eine Sehnsucht, wie die Erfolge von Martin Schulz und dem Franzosen Macron zeigen. Doch den Deutschen wankelt noch der Mut.

Verfassungspatriotismus, das hätten wir von Gauck lernen können, ist ein leises, aber starkes Gefühl. Er geht unvollendet.

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