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Ein Kämpfer der Freien Syrischen Armee hält seine Maschinenpistole und ein abgefeuertes Artilleriegeschoss der Regierungstruppen in den Händen während er durch die Straßen von Aleppo zieht.

© dpa

Der Nahe Osten nach "Sykes-Picot": Staatszerfall zwischen Mittelmeer und Tigris steht bevor

Vor fast einhundert Jahre teilten Mark Sykes und François Georges-Picot den nahöstlichen Teil des Osmanischen Reiches unter sich auf. Die von ihnen festgelegten Grenzen bestimmen die politische Geographie der Region bis heute. Nun bricht diese „Sykes-Picot“-Ordnung zusammen.

Ägypten taumelt einer ungewissen Zukunft entgegen, Syrien versinkt im Bürgerkrieg, der Zerfall des Irak scheint nur noch eine Frage der Zeit. Immer öfter macht das Diktum vom Ende der „Sykes-Picot-Ordnung“ in Nahost die Runde. Fast hundert Jahre ist es her, dass Mark Sykes und François Georges-Picot im Auftrag der britischen Krone und des französischen Präsidenten den nahöstlichen Teil des Osmanischen Reiches unter sich aufteilten - per Geheimabkommen, versteht sich. So legten ein britischer Offizier und ein französischer Diplomat den Grundstein für die Staatenwelt des modernen Nahen Ostens. Koloniale Willkür hin oder her: die von ihnen festgelegten Grenzen bestimmen die politische Geographie der Region bis heute. Auch wenn das Sykes-Picot-Abkommen Ausdruck imperialer Machtpolitik war und den Belangen der regionalen Völker wenig bis gar keine Beachtung schenkte: der Zusammenbruch der Ordnung à la Sykes-Picot und damit der Zerfall staatlicher Strukturen von Libanon über Syrien bis zum Irak gibt Anlass zur Sorge. Besser heute als morgen sollten wir Europäer uns auf ein Konglomerat instabiler bis zerfallender Staaten zwischen Mittelmeer und Tigris - also in unserer direkten Nachbarschaft - einstellen.

Aus dem syrischen Bürgerkrieg mit Auswirkungen auf die Nachbarstaaten ist längst ein regionaler Flächenbrand mit Implikationen für Syrien geworden. Und während sich der zunehmend konfessionell geprägte Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten weiter verhärtet, werden Syriens physische Grenzen immer poröser. Spätestens seit der Schlacht von al-Qussair im Mai/Juni 2013, bei der die libanesische Hisbollah zum ersten Mal als Kriegspartei Seite an Seite mit dem Assad-Regime kämpfte, existiert die syrisch-libanesische Grenze nur noch auf der Landkarte. Am Montag setzte die EU den bewaffneten Flügel der „Partei Gottes“ auf ihre Terror-Liste - vordergründig eine Reaktion auf terroristische Aktivitäten der schiitischen Miliz auf europäischem Boden. Doch eine weitere Botschaft schwingt mit: die Europäer missbilligen das Eingreifen der schiitischen Kämpfer in Syrien. Im Kern ist die Listung allerdings nicht mehr als Symbolpolitik. Wenig überraschend also, dass die Hisbollah sich von der Maßnahme der Europäer unbeeindruckt zeigte.

Syriens Grenzen sind in Auflösung begriffen

Syriens Grenzen sind in Auflösung begriffen – auch im Osten des Landes. Die Grenzlinie, die eigentlich die syrische Provinz Deir Ezzor vom benachbarten Al-Anbar im sunnitisch dominierten Westen Iraks trennen soll, verliert sich de facto in den Weiten der syrisch-irakischen Wüste. Je länger der Konflikt andauert, desto wahrscheinlicher wird eine Fragmentierung Syriens: in ein vom Assad-Regime beherrschtes „Alawistan“ entlang der Mittelmeerküste, in ein von den Rebellen kontrolliertes Gebiet und schließlich in eine kurdische Enklave im syrischen Nordosten, die dereinst – so die unausgesprochene Hoffnung vieler Kurden – in einem unabhängigen kurdischen Staat aufgehen könnte.

Die zentrifugalen Kräfte in Syrien ebenso wie die Zerfallserscheinungen im benachbarten Irak, in dem die „Autonome Region Kurdistan“ ihre de facto-Unabhängigkeit von Bagdad peu à peu ausbaut, der schiitische Süden - mit Unterstützung aus Teheran – mehr Autonomie fordert und die sunnitische Minderheit immer vernehmlicher gegen die schiitisch dominierte Zentralregierung aufbegehrt, läuten die Post-Sykes-Picot-Ära ein. Noch sind die Konturen einer neuen regionalen (Un-) Ordnung äußerst vage. Drei prägende Merkmale zeichnen sich allerdings schon heute ab. Erstens: an die Stelle von – mehr oder weniger soliden – Nationalstaaten tritt eine Vielzahl kleinerer Einheiten, die durch eine gemeinsame konfessionelle oder ethnische Identität zusammengehalten werden. Zweitens: Nicht-staatliche Akteure wie Stammesverbände, Milizen und religiöse Gruppierungen gewinnen weiter an Bedeutung. Drittens: Die traditionellen Ordnungsmächte der Region - Syrien, Irak und Ägypten – haben sich durch innere Konflikte bis auf weiteres ins regionalpolitische Abseits manövriert. Zwar verschiebt dieses Vakuum die Machtbalance in der Region zugunsten der Golfstaaten und der nicht-arabischen Regionalakteure Iran, Türkei und Israel. Doch aus Sicht der „Profiteure“ ist die Schwäche Damaskus‘, Bagdads und Kairos ein Danaer-Geschenk. Denn mit Syrien, Irak und Ägypten fallen nicht nur Konkurrenten im Wettbewerb um die regionale Vormachtstellung aus, sondern auch potenzielle Partner bei der politischen und wirtschaftlichen Stabilisierung der Region.

Tatenlosigkeit kann keine Option sein

Wie also sollten wir Europäer auf die Herausforderungen eines „transnationalen Krisenbogens“ zwischen Levante und Zweistromland reagieren? Eines vorweg: Die Urenkel von Sykes und Picot haben weder den Anspruch noch die Mittel, den Nahen Osten nach ihren Vorstellungen zu gestalten, geschweige denn zu ordnen. Doch trotz aller Begrenzungen europäischer Wirkmächtigkeit kann Tatenlosigkeit keine Option sein. Ob der Zerfall Syriens und Iraks noch aufzuhalten ist, vermag heute niemand zu sagen. Kein Zweifel besteht indessen daran, dass der Syrien-Konflikt durch die kompromisslose Interessenpolitik der externen Mächte weiter angefacht wird. Insofern sollten die Europäer sich trotz aller Rückschläge in Sachen „Genf II“ auch weiterhin dafür einsetzen, alle relevanten Akteure – einschließlich der Golfstaaten und Iran – an einen Tisch zu bringen und Verhandlungen über die Beendigung der Gewalt und die Grundzüge einer Post-Konflikt-Ordnung anzustoßen. Nicht minder dringend ist die Stabilisierung der Nachbarstaaten Syriens, allen voran Jordaniens und Libanons, die angesichts eines nicht abreißenden Flüchtlingsstroms die Grenze ihrer Belastbarkeit längst überschritten haben und mehr denn je auf internationale Hilfe angewiesen sind.

Dass die Spannungen zwischen Iran und seinen sunnitischen Nachbarn das regionale Klima zusätzlich aufheizen, liegt auf der Hand. Die Wahl Hassan Rohanis zum Präsidenten der Islamischen Republik bietet eine Chance, die Europa nutzen sollte, um auf eine Annäherung zwischen den westlichen und östlichen Anrainern des Golfs hinzuwirken. Fernziel muss dabei die Schaffung einer umfassenden Sicherheitsarchitektur für die gesamte Region sein. Denn: je fragmentierter und angespannter die regionale Gemengelage, desto mehr Bedeutung kommt Mechanismen und Strukturen zur Konfliktbewältigung zu.

Die Arabische Liga, oft und zu Recht als Debattierclub und Verwalterin des Status-quo gescholten, könnte hier eine wichtige Rolle spielen - wenn sie es schafft, sich den veränderten Gegebenheiten in der Region anzupassen. Für viele Beobachter überraschend, hat die Regionalorganisation mit Sitz in Kairo sowohl in der Libyen-Krise als auch im Syrien-Konflikt Handlungsfähigkeit bewiesen. Sollte es mit Hilfe der Europäer gelingen, die Liga weiter zu stärken und zu einem Garanten regionaler Stabilität auszubauen, wäre das ein großer Fortschritt. Und ein dringend notwendiger allemal, denn der Nahe Osten der Post-Sykes-Picot-Ära wird unwirtlicher, unübersichtlicher und unberechenbarer.

Nora Müller ist Programmleiterin im Bereich Internationale Politik der Körber-Stiftung.

Nora Müller

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