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Alltag in Deutschland. Rechtsextreme ziehen am Sonntag (13.11.11.) durchs oberfränkische Wunsiedel.

© dapd

Neonazi-Terror: Auf dem rechten Auge blind?

Deutschland erlebt derzeit einen ähnlichen Schock wie Norwegen im Sommer. Und das Entsetzen wird so schnell nicht nachlassen. Denn das Thema Rechtsextremismus gilt in Bund und Ländern offenbar gleichermaßen als lästig, egal welche Parteien regieren.

Von Frank Jansen

Es ist zu erwarten, dass noch reichlich Aufregung folgt, wenn weitere Details der unfassbar erscheinenden Geschichte des Jenaer Neonazi-Trios bekannt werden. Wie kann es sein, dass die Bundesrepublik von der brutalsten rechtsextremen Terrortruppe seit der Wiedervereinigung heimgesucht wurde, mehr als 13 Jahre lang – ohne es zu begreifen? Waren Sicherheitsbehörden, Politik und Gesellschaft auf dem rechten Auge blind? Neun Morde an Kleinunternehmern mit Migrationshintergrund, die Hinrichtung einer Polizistin in Heilbronn, mindestens 14 Banküberfälle und vermutlich weitere Taten, wohl auch mit Einsatz von Sprengstoff, haben nicht einmal gereicht, altgediente Rechtsextremismus-Experten auf die Idee zu bringen, da könnte eine Braune-Armee-Fraktion unterwegs sein.

So erlebt Deutschland einen ähnlichen Schock wie Norwegen im Sommer, als der Rechtsextremist Anders Breivik eine ebenfalls unvorstellbar erscheinende Gewaltorgie inszenierte. Beide Länder müssen sich nun eingestehen, dass beim Blick auf die meist als beschränkt geltenden Rechtsextremisten das Undenkbare zu denken ist. Auch Neonazis können sich in professionell agierende Terroristen verwandeln. Das würde bei Linksextremisten niemand bestreiten. Doch wer bislang der braunen Szene zutraute, ein ähnliches Gebilde wie die Rote-Armee-Fraktion hervorzubringen, sah sich schnell dem Vorwurf ausgesetzt, Hysterie zu verbreiten und Verschwörungstheorien zu frönen.

Und dann ist es doch passiert. Sogar jahrelang. Gab es gar keine Warnzeichen? Die Dimension rechtsextremer Gewalt wird in der Bundesrepublik bis heute unterschätzt. Daran ändert auch nichts die von Zeit zu Zeit aufwallende Empörung über grausame Angriffe oder besonders dreiste Provokationen der NPD. Nach Recherchen des Tagesspiegels und zweier weiterer Zeitungen haben Neonazis und andere rechte Täter seit der Wiedervereinigung mindestens 138 Menschen getötet. Die Bundesregierung nennt, gestützt auf die Zahlen der Polizei in den Ländern, nur 48 Todesopfer.

Die Neigung der schwarz-gelben Koalition, die enorme Diskrepanz von 90 Toten zu hinterfragen und nach möglichen Defiziten bei der Polizei zu forschen, ist begrenzt. Das Thema, so scheint es, gilt als lästig. Bei Bund und Ländern gleichermaßen, egal welche Parteien regieren. Ob sich das nun ändert, da offenbar zehn weitere Tote als Opfer rechtsextremer Aggression zu beklagen sind?

Ein weiteres Reizthema ist der Umgang des Verfassungsschutzes mit V-Leuten. Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat erlebten eine ihrer größten Blamagen, als das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2003 das NPD-Verbotsverfahren wegen unlösbarer juristischer Probleme mit dem staatlich finanzierten Spitzelwesen einstellte. Man kann natürlich den Richtern mangelndes Verständnis für die Arbeit eines Nachrichtendienstes unterstellen. Doch der Einsatz von V-Leuten, nicht nur in der rechten Szene, bleibt heikel.

Der Fall des Jenaer Trios, so ist zu befürchten, könnte dem Staat erneut eine kräftige Blamage bescheren. Jedenfalls ist zu klären, welche Fehler die Sicherheitsbehörden gemacht haben. Erst wenn da Klarheit herrscht, wäre die Zeit gekommen, über ein zweites NPD-Verbotsverfahren nachzudenken, das aber jetzt schon wieder gefordert wird – obwohl ein Erfolg ungewiss ist und offen bleibt, was die NPD mit dem Trio verband. Und ein Verbot, so viel ist sicher, wird braune Gewalt kaum stoppen.

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