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Sicherheitsverwahrung: Der Stammtisch darf nicht siegen

In der nächsten Woche entscheidet das Bundesverfassungsgericht erneut über die Sicherheitsverwahrung. Die jetzige Regelung verstößt gegen die Menschenrechte. Doch das Gericht steht bislang auf der Seite der Stammtische.

Pacta sunt servanda – Verträge sind zu halten. Ehrbare Kaufleute nehmen diesen Grundsatz ernst. Die deutsche Politik nicht. Die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) ist ein Vertrag. Die Bundesrepublik hat ihn gebrochen. Das stellte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gleich in mehreren Entscheidungen fest, zuletzt Mitte April. Das Straßburger Gericht urteilte über das deutsche Recht der Sicherungsverwahrung. Teile dieses Rechtes sind menschenrechtswidrig. Stein des Anstoßes waren zwei Gesetzesänderungen aus den Jahren 1998 und 2004.

Mit der ersten Novelle ließ der Gesetzgeber eine bis dahin geltende Höchstfrist von zehn Verwahrungsjahren rückwirkend entfallen. Eben kannten Sicherungsverwahrte noch das Datum ihrer Entlassung. Ab 1998 konnten sie unbegrenzt verwahrt werden.

Die zweite Novelle führte 2004 die sogenannte nachträgliche Sicherungsverwahrung ein. Nun konnte eine Sicherungsverwahrung auch dann verhängt werden, wenn von ihr im Strafurteil nie die Rede war. Menschen, die ihre angekündigte Strafe abgesessen hatten, saßen nun weiter auf unbegrenzte Zeit. Ausgangspunkt dieser Novelle war die Entführung, Vergewaltigung und Tötung des Mädchens Ulrike aus Eberswalde. Kaum einer bemerkte, dass auch die neuen Regelungen die furchtbare Tat nicht hätten verhindern können. Der Mörder von Ulrike war zuvor lediglich als Dieb in Erscheinung getreten. Auch nach der neuen Rechtslage hätte man ihn dafür nicht in Sicherungsverwahrung stecken können, um ihn an Mord und Vergewaltigung zu hindern.

Die Politik gab den Stammtischen, wonach sie verlangten. Stammtische räsonieren nicht. Sie lesen auch keine Statistiken. Gegen die emotionale Hitze ihres Eifers sind kühle Zahlen machtlos. An den Universitäten von Tübingen und Bochum hat man die Rückfallquoten von ehemals Sicherungsverwahrten untersucht, die als hochgefährlich eingestuft worden waren, aber entlassen werden mussten. Nur einer von 20 trat erneut mit einschlägigen Delikten in Erscheinung. Das sind fünf Prozent. Geht man mit aller Vorsicht von zehn Prozent aus, gelangt man zu einer ebenso einfachen wie furchtbaren Feststellung. In der Bundesrepublik sperrt man lieber neun Ungefährliche ein, als einen Gefährlichen freizulassen. Sicher ist sicher. Sicher ist besser.

Ist es nicht immer, befand man in Straßburg. Die Gesetzesnovellen sind menschenrechtswidrig. Die Botschaft der Straßburger Urteile war einfach: Ein Täter muss schon am Strafurteil erkennen können, wie lange er in Haft bleibt. Deutschland wurde aufgefordert, seine Recht den europäischen Vorgaben anzupassen und Betroffene freizulassen. Die Wurzel des Übels auszureißen, hätte nur zweierlei erfordert: Die nachträgliche Sicherungsverwahrung hätte wieder abgeschafft und die Zehnjahresfrist wieder eingeführt werden müssen.

Doch die Politik fürchtet die deutschen Stammtische wie eine fünfte Gewalt im Staate. An den Stammtischen will man furchtbare Rache für furchtbare Taten. Doch Menschenrechte sind unveräußerlich. Ein Täter, der die Rechte seiner Opfer mit Füßen tritt, kann seine eigenen vor dem Staat nie verlieren. An den Stammtischen hält man das für naive Milde. In Wahrheit ist es rechtsstaatliche Härte. Schon Winston Churchill wusste, dass man die Qualität einer Zivilisation daran erkennt, wie sie ihre Straftäter behandelt. Nur wenn der Rechtsstaat vor dem schlimmsten Rechtsbrecher noch Bestand hat, ist er für alle verlässlich.

Doch die deutsche Politik hielt ihre menschenrechtlichen Pflichten wie einen Schwarzen Peter in den Händen. Schwarz-Gelb drückte sich vor den notwendigen Streichungen und schob die Karte den Gerichten zu. Der Schwarze Peter ging durch die Instanzen und schaute am 8. Februar dieses Jahres beim Bundesverfassungsgericht vorbei. Er war schon mehrfach dort zu Gast. Bislang hatte Karlsruhe – anders als Straßburg – nichts auszusetzen am Handeln des Gesetzgebers. In der nächsten Woche muss das Gericht erneut entscheiden.

Können Normen verfassungskonform und zugleich menschenrechtswidrig sein? Sie können. Das liegt daran, dass sie von zwei verschiedenen Gerichten beurteilt werden auf der Grundlage zwei verschiedener Texte. In Karlsruhe wachen die Richter über die Einhaltung des Grundgesetzes. In Straßburg hüten sie die Europäische Menschenrechtskonvention. Wünschenswert wäre die Übereinstimmung von Grundrechts- und Menschenrechtsschutz.

Das Gericht hat nur zwei Möglichkeiten, mit dem Widerspruch umzugehen. Karlsruhe kann ihn aufheben und den Schwarzen Peter aus dem Spiel nehmen. Dazu müsste es seine Rechtsprechung korrigieren und die rückwirkende Sicherungsverwahrung kassieren. Oder aber Karlsruhe hält den Widerspruch aufrecht. Dann bliebe die rückwirkende Sicherungsverwahrung so menschenrechtswidrig wie verfassungskonform.

Aber pacta sunt servanda. Den Vertragsbruch könnte die Bundesrepublik nur beseitigen, indem sie als Vertragspartner der Menschenrechte aussteigt. Vieles spricht dafür, dass das Bundesverfassungsgericht auf Konfliktkurs bleibt. Sein Präsident, Andreas Voßkuhle, rügte Straßburg, „die geschützten Sicherheitsinteressen der Bevölkerung (…) nur ganz am Rande in den Blick genommen“ zu haben. Die Äußerung hat es in sich. Sie ist erläuterungsbedürftig.

Nach dem Verständnis des Bundesverfassungsgerichts sind „Sicherheitsinteressen der Bevölkerung“ auch geschützt: mittelbar, weil das Grundgesetz dem Staat Schutzpflichten auferlegt. Sie finden sich nicht explizit im Verfassungstext. Der schützt zuerst die Rechte der Bürger vor dem Staat. Unterlässt der Staat einen Eingriff, ist die Freiheit der Menschen meist schon gewahrt. Doch manchmal muss der Staat die Grundrechte eines Menschen einschränken, um die eines anderen zu befördern. Die Schutzpflicht ist aber nur das Derivat eines Grundrechts. Treffen Derivat und Original aufeinander, ist dem Original Vorrang einzuräumen. Anderenfalls würden die Grundrechte zum Argument für ihre eigene Aushöhlung. Die Äußerungen des Verfassungsgerichts lassen nun die Sorge aufkommen, dass der Zweite Senat tatsächlich bereit ist, staatliche Schutzpflichten über das Freiheitsrecht von Gefangenen zu stellen, die menschenrechtswidrig verwahrt werden. Auch in Karlsruhe mag man den Schwarzen Peter nicht haben.

Die Angst vor den Stammtischen hat das Bundesverfassungsgericht erreicht. Es deutet sich ein Sieg der fünften Gewalt über die europäischen Menschenrechte an – mit schweren Kollateralschäden. Ein Opfer wäre die in Karlsruhe entwickelte Grundrechtsdogmatik. Bislang hat das Bundesverfassungsgericht noch kein Freiheitsgrundrecht mit einer Schutzpflicht ausgehebelt. Die neue „Schutzlehre“ bräche mit diesem Grundsatz und hätte Folgen. Mit ihr wären viel umfassendere staatliche Überwachungsmaßnahmen im Namen der Terrorismusbekämpfung denkbar. Sie erlaubte die Einschränkung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit bei geringsten Gefahren für die öffentliche Ordnung und Sicherheit. Am Ende sind alle völlig sicher – vor der Freiheit. Einer solchen Entwicklung lässt sich nur mit Konsequenz an ihrem Anfang begegnen. Was für alle gelten soll, darf auch an den Geringsten nie vorbeigehen.

Karlsruhe muss sich auf die Suche nach dem relativ „mildesten Mittel“ machen, wenn es die rückwirkende Sicherungsverwahrung prüft. Auch das ist Grundrechtsdogmatik. Der Eingriff in die Freiheitsrechte ist nur gerechtfertigt, wenn kein gleichermaßen effektives, milderes Mittel zur Verfügung steht. Die Überwachung von als gefährlich eingestuften Straftätern wäre ein solches milderes Mittel gegenüber ihrer Inhaftierung.

Das Bundesverfassungsgericht muss den Schwarzen Peter aus dem Spiel nehmen. Es muss sagen: „Das Spiel ist aus. Wir haben verloren. Die rückwirkende Sicherungsverwahrung ist grundgesetzwidrig.“

Der Autor ist Bundesrichter a. D. und Justiziar der Fraktion Die Linke im Bundestag.

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