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Gastkommentar: Die Deutschen denken sich krank

Harter Händedruck: Viele sind gegen die Rente mit 67, weil sie ihre eigene Leistungsfähigkeit im Alter unterschätzen.

Wenn Sinah Bischoff-Everding von ihrer Arbeit auf der Krebsstation in der Berliner Charité erzählt, gerät sie leicht ins Schwärmen – so viel Spaß macht ihr der Umgang mit Patienten und die Arbeit im Team. Ohne Mühe kann sich die 47-jährige Stationsleiterin schon heute „ausmalen, bis 67 zu arbeiten“. Für ihre 20 Jahre jüngere Kollegin Kerstin Bier ist 67 dagegen eine „unvorstellbare Zahl“, unmöglich im Stationsstress und fordernden Schichtdienst gesund zu erreichen. Warum die Zuversicht bei der Älteren, warum die Angst bei der Jüngeren? Weil die eine als Stationsleiterin schon ein paar Stufen der Karriereleiter erklommen hat und die andere als Berufsanfängerin noch ganz unten steht? Höchstens ein kleiner Teil der Wahrheit. Der größere Teil: Die breite Ablehnung der Rente mit 67 ist vor allem ein Kopfproblem. Für den Rentenexperten Bernd Raffelhüschen hat es zwei Facetten: ein „Bewusstseins- und politisches Erklärungsproblem“. Dieser Befund gilt für die große Mehrheit der Arbeitnehmer, hingegen nicht für besonders belastete Berufsgruppen wie Bauarbeiter, Lehrer oder Polizisten.

Aufgrund einer gesetzlichen Überprüfungsklausel wird die Bundesregierung im November einen Bericht zu der Frage abgeben, ob die Rente mit 67 angesichts „der Arbeitsmarktlage sowie der wirtschaftlichen und sozialen Situation älterer Arbeitnehmer weiterhin vertretbar erscheint“. Dieser Bericht stürzt die SPD-Führung schon heute in Turbulenzen. Denn die Erhöhung der Regelaltersgrenze ist für die Sozialdemokraten noch immer ein unbewältigtes Kapitel, ein Affront gegen ihre Stammwähler und die Gewerkschaften. Und sie ist – davon ist der Sprecher der Parlamentarischen Linken Dieter Rossmann überzeugt – „schwerer zu korrigieren als die Arbeitsmarktreform“.

Um ein Versprechen des letzten SPD-Parteitages in Dresden einzulösen und sich für die Diskussion über den Bericht zu wappnen, haben der stellvertretende Parteivorsitzende Olaf Scholz und die Generalsekretärin Andrea Nahles ein Diskussionspapier für den September-Parteitag in Berlin verfasst. Und das hat ein heftiges Flügelschlagen in der SPD ausgelöst. Auf der einen Seite der Fraktionsvorsitzende Frank-Walter Steinmeier und Franz Müntefering, die auf keinen Fall an dem Beschluss rütteln wollen. Auf der anderen Seite der Berliner Bürgermeister Klaus Wowereit, der das höhere Renteneinstiegsalter wieder abschaffen möchte. Der Kern der Kontroverse: Das Nahles-Scholz-Papier schlägt vor, das langsame Ansteigen des Renteneintrittsalters von 2012 bis 2029 an die Erwerbstätigenquote zu koppeln. Sie betrug 2008 bei den 60- bis 65-Jährigen nur 35 Prozent. Es lässt sich leicht argumentieren, dass zum Beispiel erst eine Beschäftigungsquote von 50 Prozent in dieser Altersgruppe ein höheres Renteneintrittsalter rechtfertige. In diesem Mechanismus sehen die Gegner der Rente mit 67 eine Chance, sie für lange Zeit faktisch außer Kraft zu setzen. Eine Gefahr, die nicht nur Steinmeier und Müntefering wittern, sondern auch Parteichef Sigmar Gabriel: Der steht zwischen allen Fronten und zugleich vor der härtesten Bewährungsprobe seiner Amtszeit.

Um einen Rentenparteitag und möglicherweise sogar einen Beschluss gegen die Rente mit 67 zu vermeiden, spielen einige Obertaktiker in der Parteiführung jetzt mit dem bewährten Rezept, das Thema doch erst einmal an der Basis diskutieren zu lassen, bevor ein Parteitag entscheidet. Wie die Verfahrensdebatte ausgeht, weiß heute niemand. Sicher ist nur, dass Parteivorstand und -präsidium am 23. August nach einem Treffen mit den Gewerkschaften entscheiden müssen – so oder so.

Die von einem Teil der SPD versuchte Rolle rückwärts bei der Rente mit 67 wäre fatal. Sie würde deren Akzeptanzkrise noch verschärfen. Nach der letzten Umfrage von infratest dimap befürworten nämlich nur acht Prozent die Rentenreform. 44 Prozent fordern ihre Rücknahme und 46 Prozent eine frühere Rente für Berufsgruppen mit besondere Belastungen.

Hinter dieser Ablehnung stehen vor allem Ängste: die Angst, in höherem Alter den Jobanforderungen nicht mehr zu genügen, die Angst, mit einem früheren Ruhestand massive Abschläge bei der Rentenhöhe hinnehmen zu müssen; und die Angst vor Altersarmut, wenn durch längere Phasen der Arbeitslosigkeit die Rente auf Grundsicherungsniveau zu sinken droht.

Diese verständlichen Ängste verweben sich jedoch mit allzu menschlichen Motiven und Einstellungen wie Bequemlichkeit, Gewohnheit, Langeweile oder Frust im Job. Die tieferen Ursachen für den Widerstand gegen die Rente mit 67 wurzeln aber in ganz anderen Bereichen: in den Frühverrentungsprivilegien der 70er und 80er Jahre, in einem falschen Bild von Gesundheit und Leistungsfähigkeit im Alter und im Mangel an Information.

Einstellungen und Verhaltensweisen von Arbeitnehmern wie Arbeitgebern gegenüber der Rente sind Jahrzehnte von der verhängnisvollen Frühverrentungspolitik geprägt worden. In den 60er Jahren, vor der Förderung des vorzeitigen Ruhestandes durch Altersteilzeit und Frühverrentung, lag das durchschnittliche Rentenzugangsalter deutlich über 64 Jahre und damit um mehr ein Jahr höher als 2008 – obwohl wir heute sicher fitter und gesünder sind als vor 50 Jahren. Das durchschnittliche Rentenzugangsalter sank dann bis Mitte der 90er Jahre auf knapp über 62. In diesen Zeit gewöhnten sich die Arbeitnehmer daran, mit Mitte oder Ende 50 aufzuhören und es für normal zu halten, noch nicht einmal bis 65 zu arbeiten. „Diese Frühverrentungspolitik“ hat nach Ansicht des Ökonomen Hilmar Schneider (Institut für die Zukunft der Arbeit) bei der „heutigen Arbeitnehmergeneration Erwartungen geweckt, die die Rente mit 67 nun zerstört hat. Das schürt Unmut, weil sie sich um Privilegien betrogen fühlt“. Zusammengefasst: Die Frühverrentungsmentalität untergräbt noch heute die Akzeptanz der Rente mit 67.

Das höchste Hindernis auf dem Weg zur Rente mit 67 ist eine in der Öffentlichkeit bisher kaum aufgefallene Diskrepanz: Beschäftigte schätzen ihre Gesundheit und Leistungsfähigkeit im Alter viel negativer ein als es dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand in Medizin und Altersforschung entspricht. „Die Deutschen denken sich kränker, als sie vermutlich sein werden“, bilanzieren die Münchner Wirtschaftsökonomen Winter und Scheubel eine eigene Untersuchung.

Nach ein Umfrage von Infratest Sozialforschung im Auftrag des DGB meinen nur 51 Prozent der Beschäftigten, ihre Arbeit wahrscheinlich gesund bis 65 ausüben zu können, 33 Prozent trauen sich das nicht zu. Noch mehr Skepsis verrät die Studie von Winter und Scheubel: Dort meinen mehr als 50 Prozent, im Alter nicht mehr arbeitsfähig zu sein. Die Gewerkschaften erklären dieses mangelnde Selbstvertrauen durch die heute härteren Arbeitsbedingungen: höheres Arbeitstempo, Arbeitsverdichtung durch Personalabbau oder mehr Stress. In der Wissenschaft gibt es jedoch bisher keinen Beleg dafür, dass ältere Arbeitnehmer weniger gesund und weniger produktiv sind. Im Gegenteil, in Altersforschung und Medizin hat sich inzwischen ein breiter Konsens herausgebildet, dass das Leistungs- und Wissenspotenzial Älterer, Intelligenz, Mechanik, Erfahrung deutlich größer ist als bisher angenommen – auch als Folge der längeren Lebenserwartung. Die Zahl der Krankheitstage bleibt zwischen 45 und 64 nahezu konstant Der Mannheimer Altersforscher Axel Börsch-Supan geht davon aus, dass Frauen bis 73 grundsätzlich körperlich nicht beeinträchtigt sind, Männer bis 68. Für den Doyen der Altersforschung Paul B. Baltes sind die heutig 70-Jährigen körperlich und geistig so fit wie die 60- und 65-Jährigen vor 30 Jahren.

Diese Einschätzungen bestätigen neuere Untersuchungen des Mannheimer Forschungsinstituts für Ökonomie und Demographischen Wandel. Drei Jahre haben die Wissenschaftler Fließbandarbeiter in einem Lastwagenmontagewerk beobachtet und dabei herausgefunden, dass Arbeitnehmer im Alter zwischen 55 und 65 keine höheren Fehlzeiten durch Krankheit haben und auch ihre Produktivität nicht geringer ist. Der positive Erfahrungseffekt ist in dieser Altersgruppe deutlich größer als der Alterungseffekt – mit der Folge, dass ältere Arbeitnehmer in dieser Fabrik tendenziell weniger Fehler machen. Börsch-Supan: „Erfahrungswissen zählt mehr als nachlassende physische Kraft und Kognition.“

Und noch etwas andere haben die Mannheimer Forscher in einer internationalen Studie entdeckt: Als Gesundheitsindikator haben sie die beim Händedruck entfaltete Greifkraft gemessen und festgestellt, dass die zwar im Alter zwischen 60 und 70 zurückgeht, aber nur um zwei Kilo. Interessant ist, dass Deutschland bei der objektiv gemessenen Greifkraft in Europa an der Spitze liegt, in der subjektiven Einschätzung aber auf dem drittletzten Platz „Deutsche scheinen ihren Gesundheitszustand eher schlecht zu reden“, folgert Börsch-Supan. „Die meisten Menschen können gut bis zu den Altersgrenzen arbeiten, die heute und in Zukunft gelten sollen.“

Im Bewusstsein der Arbeitnehmer scheint das Rentenalter 65 bisher eine unüberwindliche Schallmauer. Sie wird zementiert durch Informationsmangel über die Arbeitsfähigkeit im Alter und über Auswirkungen der alternden Gesellschaft auf Arbeits- und Rentenzeit. Im Denken der Menschen ist noch nicht angekommen, dass die Rente mit 67 einzig und allein eine Reaktion auf gestiegene Lebenserwartungen und gesunkene Geburtenraten ist. Die Eckpunkte in Stichworten: bis 2030 wird die Lebenserwartung im Durchschnitt um knapp zwei Jahre steigen und die Geburtenrate auf 1,4 Kinder je Frau absinken; jeder 2006 geborene Junge darf damit rechnen, 76,2 Jahre alt zu werden, jedes Mädchen 81,8; die Rentenlaufzeiten haben sich seit 1960 um im Durchschnitt 70 Prozent verlängert; und in 20 Jahren werden in Deutschland nach Berechnungen des Mannheimer Instituts etwa fünf Millionen Menschen weniger erwerbstätig sein als heute, wenn es bei den heutigen Erwerbsquoten bliebe.

Wegen dieser demografischen Entwicklung ist die Rente mit 67 praktisch auch alternativlos – trotz aller Rückzugsgefechte von Teilen der SPD. Bis auf die Linkspartei will sie deshalb auch keine Partei wieder abschaffen. Trotzdem verschweigen die Politiker die erhöhte Regelaltersgrenze am liebsten wegen ihrer Unpopularität. Auf dem Dresdner SPD-Parteitag verteidigte Franz Müntefering sie in seiner Abschiedsrede als Parteichef mit Zahlenkolonnen – ohne ihren Namen zu nennen. Er behandelt sie wie ein Vater sein uneheliches Kinds: Es ist da, aber ungeliebt. Und auch im Koalitionsvertrag taucht die Rente mit 67 auf Wunsch der Unionsparteien nicht auf. Diese politische Feigheit ist verhängnisvoll, weil sie den für ihren Erfolg notwendigen Bewusstseinswandel verhindert.

Um die Akzeptanz der Rente mit 67 zu erhöhen, sind zwei Schritte notwendig: ihre Flexibilisierung bei besonders belasten Berufsgruppen und eine Informationsoffensive der Bundesregierung. Denn die Rente mit 67 ist bisher so mangelhaft erklärt wie Hartz IV.

Wenn fast die Hälfte aller Bundesbürger eine frühere Rente für besonders belastete Berufsgruppen wie Dachdecker, Krankenschwestern oder Lehrer fordert, offenbart dieses Meinungsbild eine Akzeptanzschwäche der bisherigen gesetzlichen Regelung. Es gibt inzwischen einen breiten gesellschaftlichen und politischen Konsens darüber, dass für diese Gruppen Ausnahmen von der höheren Regelaltersgrenze gemacht werden müssen. Bisher sind indes alle gesetzlichen Versuche wegen unüberwindbarer juristischer Abgrenzungsschwierigkeiten – wann ist eine Berufsgruppe besonders belastet? – gescheitert. Die Verantwortung für diese Gruppen müssen künftig stärker jene tragen, die für die besonderen Belastungen verantwortlich sind und aus ihnen wirtschaftlichen Nutzen ziehen: die Sozialpartner. Die könnten zum Beispiel in Tarifverträgen bestimmen, dass Arbeitgeber Geld in einen Altersfonds einzahlen oder beide Seiten während des Erwerbslebens zusätzlich Beiträge zur Rentenversicherung entrichten, um Abschläge bei einem früheren Renteneintritt auszugleichen oder die Renten zu erhöhen. Hierfür will die SPD den gesetzlichen Rahmen zu Recht erweitern.

Die Rente mit 67 ist kein Rentenkürzungsprogramm. Sie stellt vielmehr Leitlinien auf, um die Rentenversicherung finanziell zu stabilisieren, die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft zu sichern und den Bewusstseinswandel in einer alternden Arbeitswelt zu fördern.

Joachim Wagner

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