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Schild bei einem Schweigemarsch in Frankfurt am Main für die Opfer in Japan.

© dapd

Japan und wir: Die Siehste-Fraktion und die Vogel-Strauß-Fraktion

Japan wurde vom schwersten Erdbeben seiner Geschichte heimgesucht. Die Bilder davon sind so real wie unfassbar. Der Verstand aber, der gewohnt ist, in Kategorien von Schuld und Ursache zu denken, drängt uns sofort eine Lehre auf.

Vielleicht muss es so sein. Und vielleicht wird es immer so sein, dass das Leben weitergeht, wenn sich woanders eine Katastrophe „apokalyptischen Ausmaßes“ ereignet, wie Angela Merkel sagte. Vielleicht ist man machtlos dagegen, dass der Rhythmus der Reaktionen, der jedes Innehalten überholt, schneller und schneller wird. Dass daher der Streit über Libyen schon wieder das Leid der Japaner verdrängt, von denen mehr als eine halbe Million obdachlos sind, die selbst noch in Notunterkünften erfrieren, weil es am Nötigsten fehlt, und die weiter in Angst leben müssen vor einem nuklearen GAU. Ernst und Empathie sind als Haltungen flüchtig, weil die öffentliche Debatte auf Autopilot läuft. Immer weiter. Immer weiter.

Wo kein Halten ist, ist kein Halt. Das Ringen um Worte hat kapituliert, weil die Selbstbezogenheit der Unbetroffenen stärker war. Wir reden von Apokalypse und Zäsur und erschöpfen uns gleichzeitig im gereizten Gerede über Atomgesetzparagrafen, Moratorien, Ausstiegsgeschwindigkeiten. Das Absurde daran: Je größer die Gemeinsamkeit – keiner in Deutschland will neue Kernkraftwerke, alle wollen den Ausstieg, es geht lediglich um ein paar Jahre mehr oder weniger –, desto verletzender der Ton.

9000 Kilometer entfernt riskieren Menschen durch Verstrahlung ihr Leben, weil sie das Leben anderer retten wollen. Die anderen helfen einander in Not, teilen selbst das Wenige, das ihnen geblieben ist. Wer Platz hat, nimmt Überlebende bei sich auf. Die Japaner geben der Welt ein fast übermenschliches Beispiel an Mut, Großmut und Demut. Bei uns indes verabschiedet sich das Mitgefühl in dem Maße, wie sich die Siehste-Fraktion (das musste ja mal passieren) und die Vogel-Strauß-Fraktion (damit konnte nun wirklich keiner rechnen) für den Wahlkampf munitionieren.

Vielleicht ist es naiv, anderes zu erwarten. Politik kann nicht stillstehen. Sie treibt eine Dynamik, die keine Rücksicht darauf nimmt, wie schnell ferne Bilder von Verwüstung und Leid ihren Ausdruck finden. „Das Wort entschlief, als jene Welt erwachte“, schrieb Karl Kraus in einem ganz anderen Zusammenhang zu einer ganz anderen Zeit. Seitdem wissen wir, dass das nicht stimmt. Egal, welche Welt zum Erschrecken führt: Aus der Rationalisierungsrotation sprudeln unbarmherzig Erklärungen, aus denen gute Ratschläge an die Überlebenden gezimmert werden. Den Opfern in Japan seien wir das schuldig, sagt Klaus Wowereit.

Das kann man so sehen. Oder auch anders. Rauchen, das weiß man, gefährdet die Gesundheit. Sollen wir uns wirklich neben das Bett eines Lungenkrebskranken stellen und, anstatt diesem die Hand zu halten, ein Schild in die Luft heben, auf dem steht: Rauchen kann zum Tode führen? Auch was stimmt, kann unpassend sein. Wie wirkt es auf einen vor Kälte frierenden, Hunger leidenden, seine Angehörigen vermissenden Japaner, wenn er hört, die Deutschen schuldeten ihm ihre Ausstiegsdiskussion?

Japan wurde vom schwersten Erdbeben seiner Geschichte heimgesucht. Die Bilder davon sind so real wie unfassbar. Der Verstand aber, der gewohnt ist, in Kategorien von Schuld und Ursache zu denken, drängt uns sofort eine Lehre auf. Vielleicht muss es so sein. Es wäre naiv, zumindest für die akute Dauer des Dramas, ein Lehren-Moratorium zu fordern. „Das Leben geht weiter. Als es erlaubt ist.“ Auch das stammt von Karl Kraus.

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