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Reformen: Die veränderte Republik

Deutschland steht nach dem Beschluss zum Atomausstieg und dem Ende der Wehrpflicht weder am Abgrund zur ewigen Finsternis, noch werden Sozialeinrichtungen reihenweise schließen. Selbst zur Bundeswehr haben sich schon jetzt mehr Freiwillige gemeldet als erwartet.

Von Antje Sirleschtov

Mit historischen Daten in der Politik ist das so eine Sache. Für die einen, die Regierenden, sind sie meistens Anlass, die eigene Weitsichtigkeit und große Regierungskunst zu beschwören. Für die anderen, auf den harten Oppositionsbänken, zeigt sich an solchen Tagen wiederum die gesamte Überforderung und der Dilettantismus der Regierung. Den Leuten da draußen allerdings, denen wird es meistens eher mulmig, wenn es mal wieder allzu historisch zugeht in der Politik.

Und ein bisschen mulmig kann einem schon werden an solch einem Tag. Deutschland verabschiedet sich von der Atomkraft, dann auch noch von der Wehrpflicht. Mag sein, dass die einen sagen, sie hätten diese Entwicklung sowieso schon immer vorhergesagt, und dass die anderen sich nach Kräften bemühen, an diesem Tag nicht ganz so gestrig auszusehen. Trotzdem ist es für alle zusammen, die Befürworter und auch die Gegner dieser Entscheidungen, ein historischer Tag. Immerhin zieht das Land in atemberaubender Geschwindigkeit einen Schlussstrich unter zwei Kapitel seiner Geschichte: die Nutzung der Kernkraft zur Energiegewinnung und den verpflichtenden Dienst junger Bürger für die Gesellschaft, an der Waffe oder im Pflegeheim. Das eine wie das andere galt über lange Zeit als Grundlage für ein sicheres, demokratisches und im Wohlstand lebendes Land. Genauso wie die Geschichte nun über beides hinweggegangen ist.

Doch was kommt jetzt? Man muss gar nicht in den Bundestag sehen, auf die zweifelnden Abgeordneten, oder dem Bundespräsidenten beipflichten, der meint, die Parteien hätten zur demokratischen Legitimierung solch weitreichender Veränderungen zunächst Voten ihrer Mitglieder einholen sollen. Man braucht nur die Sorgen der Gebrechlichen zu hören, wer ihnen nun – statt der Zivis von gestern – das Essen bringen wird. Oder der Thüringer, die sich bereits von Riesenstrommasten umstellt sehen, der Klimaschützer, die die Rückkehr schmutziger Kohlekraftwerke fürchten, oder der Industriearbeiter, die um ihre Jobs bangen, wenn Strom so teuer wird, dass der Chef seine Fabrik ins Ausland verlagert. Sie alle stehen an so einem Tag im Windzug der Geschichte. Zufrieden, ja, das schon, denn beides, der Atomausstieg und das Ende der Wehrpflicht, beruht auf gesellschaftlichen Mehrheiten. Aber auch verwirrt ob der Geschwindigkeit, mit der Politik über eben noch geltende Wahrheiten hinwegzufegen scheint. Und besorgt, ob das alles gut überlegt und richtig sein kann.

In so einem Augenblick ist allen etwas mehr Gelassenheit zu wünschen. Deutschland steht weder am Abgrund zur ewigen Finsternis, noch werden Sozialeinrichtungen demnächst ihre Schützlinge reihenweise vor die Tür setzen müssen. Selbst zu dem doch so verhassten Dienst in der Bundeswehr haben sich schon jetzt mehr Freiwillige gemeldet als erwartet. Es geht also. Die Warnungen vor der Apokalypse drücken auch weit überwiegend nur die Unsicherheit von Vereinen, Verbänden oder Betroffenen aus, die sich von heute auf morgen an die neuen Verhältnisse anpassen müssen. Etwas, das man vielleicht auch Politikern, womöglich selbst Regierenden und Beamten in Ministerien in solchen Zeiten zugestehen sollte. Schließlich stehen auch sie im Wind der schnellen Veränderungen. Und manchmal, diesmal, muss man vielleicht auch nicht sofort jedes Detail eines Zukunftsprojekts in Stein gemeißelt gesetzlich regeln. Zumal an so einem Tag wie diesem.

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