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"Wetten, dass...?": Ein Teil der Tragödie

Es kann sein, dass da Druck war, den die Verantwortlichen von "Wetten, dass...?" spürten. Der Druck, mithalten zu wollen gegen vermeintlich spektakuläre neue Showformate. Samuels Kochs Wette war übertrieben.

Nein, wirklich richtig machen konnte es das ZDF dann nicht mehr, nachdem der Unfall passiert war. Um viertel vor neun, der erste Wettkandidat von Thomas Gottschalk war gerade furchtbar gestürzt, unterbrach der Sender die Show und zeigte ein Medley vergangener Musikauftritte bei „Wetten, dass...?“. Das erste Stück von Modern Talking hieß „Win The Race“, kurz danach lief ein Auftritt der Band „Boyzone“ mit ihrem Lied „No Matter What“ – der Hauptsänger, Stephen Gately, starb vor einem Jahr mit 33 Jahren.

Dabei wollte das ZDF alles richtig machen – während der Tragödie und auch bereits davor, die Gäste, die man eingeladen hatte, versprachen der letzten Ausgabe des Jahres den traditionellen Glanz zu verleihen: „Take That“ mit Robbie Williams, Otto, Cameron Diaz. Im Vorfeld feuerten die Boulevardblätter das Thema „Wer wird sich tätowieren lassen? Gottschalk oder Hunziker?“ in einer Art und Weise an, die dieses Land dank der Präsidentengattin Bettina Wulff jetzt wohl ertragen muss. Es war, so sagt man das wohl, alles angerichtet.

Und dann kam Samuel Koch, der erste Kandidat, er hatte Sprungfedern an den Füßen und damit wollte er Autos entgegenlaufen und dann über sie drüber springen, und dieser Samuel Koch war sofort sympathisch – ein Traumkandidat eigentlich. So einen wie den 23-Jährigen aus Efringen-Kirchen hatte die Sendung lange nicht mehr.

Und das ist eben auch ein Teil der Tragödie. Seit längerem schon lautet ein Vorwurf, den man an „Wetten, dass...?“ macht: Die Wetten sind langweilig, unspektakulär, zu einfach, zu dumm. Sie würden keine Rolle mehr spielen, nicht mehr im Mittelpunkt stehen in einer Show, in der die Prominenten nur noch ihre Dutzendware aus Film, Fernsehen und Popmusik vermarkten wollen. Und es kann sein, dass da Druck war, den die Verantwortlichen spürten. Der Druck, mitzuhalten zu wollen gegen vermeintlich spektakuläre neue Showformate wie „Supertalent“, das gleichzeitig Samstagabend auf RTL lief, und „Schlag den Raab“ auf ProSieben. Und wie es leider oft ist bei demjenigen, der Druck verspürt – er übertreibt, er will es noch besser machen. Samuels Koch Wette war übertrieben, das ZDF hätte sie nicht ins Programm bringen dürfen. Als die Katastrophe dann passiert ist, da reagierte das ZDF so, wie man es von einem öffentlich-rechtlichen Sender erwarten darf: keine Bilder des Gestürzten, keine Wiederholungen des Unglückssprungs – es ist die absolut richtige Entscheidung, etwas anderes zu zeigen, die Regie zeigte erst das Gesicht von Sara Nuru, dann die Totale des Studiopublikums – verstörende Bilder, immer noch, man sah das Entsetzen in den Gesichtern der Menschen. Und man sah die Fotografen, die drauf hielten auf die Szene, man hörte die Stimmen von Hunziker und Gottschalk, die nach Ärzten riefen, die genau so hilflos waren, wie der Fernsehzuschauer.

Hilflosigkeit und Professionalität – das waren die Pole, in denen sich Thomas Gottschalk jetzt bewegen musste, und er tat es mit Anstand. „Ich kann jetzt nicht so weitermoderieren, als wäre nichts geschehen“, sagt Gottschalk und die Regie erlöst ihn und zeigt das vorbereitete Band. Eine halbe Stunde später schaltet die Regie wieder nach Düsseldorf zu Gottschalk, der den Abbruch der Sendung verkündet. „Wir werden jetzt diese Sendung an dieser Stelle hier abbrechen. Alles andere wäre falsch. Gerade wir im ZDF fühlen uns verantwortlich, hier nicht auf heiter zu machen, wenn wir nicht heiter sind. Ich weiß, dass Sie mich verstehen, ich bedanke mich.“ Man sieht Gottschalk an, dass das die schwersten Momente seiner beruflichen Laufbahn sind – und gleichzeitig sind es wohl auch die schwersten Momente der Sendung „Wetten, dass...?“, die nächstes Jahr 30 Jahre alt wird und an diesem Samstagabend ihre Unschuld verloren hat.

Das Live-Unglück jedenfalls hatte die Zuschauer nachhaltig schockiert. Schon das Saalpublikum forderte die ZDF-Mitarbeiter auf, nicht mit der Kamera auf den Verunglückten draufzuhalten. Und alle, in der Messehalle und vor den Bildschirmen wollten wissen, wie es Samuel Koch gehe. Die Sorge und die Anteilnahme ließen die mehr als acht Millionen Menschen, die „Wetten, dass…?“ bis zum Abbruch der Sendung eingeschaltet hatten, auf Nachrichten vom Zustand des Samuel Koch warten. Für das „heute-journal“ waren sie angekündigt, und als Thomas Gottschalk gegen 22 Uhr 45 das Wort ergriff, waren wieder acht Millionen dabei. Bei Twitter und auf den wichtigsten Nachrichten-Seiten im Internet waren da schon massenhaft Genesungswünsche und großes Verständnis für den Abbruch der ZDF-Show bekundet worden. Das war die überwältigende Mehrheit, da war aber auch eine Minderheit speziell jugendlicher Zuschauer, die ihrem Frust über die Nicht-Auftritte von Justin Bieber und „Take That“ freien Lauf ließen.

„Das Supertalent“ bei RTL, nicht erst seit dem vergangenen Samstag die direkte und härteste Showkonkurrenz der ZDF-Sendung, blieb in der Erfolgsspur mit 8,34 Millionen Zuschauern. Wiederum mit einer staunenswerten Mischung aus dem Panoptikum: Der zweistimmig singende Freddy Sahin Scholl, 57, der gehörlose Tänzer Tobias Kramer, 27, und die 15-jährige Sängerin Ramona Fottner haben es ins Finale des RTL-Wettbewerbs geschafft. Aber zum Kitzel des Publikums musste der Nervenkitzel dazukommen: Jurorin Sylvie van der Vaart legte sich bei Samuraischwert-Künstler Ryan Lam unters Messer, der mit geschlossenen Augen eine Melone auf ihrem Bauch durchschnitt. Auch Rafael van der Vaart, Ehemann der Jurorin, hatte die Augen geschlossen.

Was bei RTL gut ging, ging beim ZDF schief. Nimmt man die Schaukämpfe, die Stefan Raab unter seinem Label „TV Total“ oder bei „Schlag den Raab“, dazu, dann ist klar und eindeutig: Das Unterhaltungsfernsehen zieht die Schraube an, es geht Richtung „Brot und Spiele“ im TV-Kolosseum. Und nach der Unterhaltung kommt dann das Boxen. Gerne mit Knockout, Blut und schief gehauenen Kiefern.

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