zum Hauptinhalt
Bundeskanzlerin Angela Merkel.

© Reuters

Europa in der Krise: Der deutsche Irrweg

Angela Merkel und Wolfgang Schäuble betreiben einen Wirtschaftsnationalismus wie zu Vorkriegszeiten. Damals endete das in der Großen Depression.

Mario Draghi, Europas oberster Zentralbanker, ist Angela Merkels bester Mann. Das bewies er einmal mehr beim jüngsten Gipfel von Europas Regierungschefs in Brüssel. Zuvor hatte Frankreichs Präsident François Hollande den von der deutschen Kanzlerin forcierten Sparkurs hart kritisiert, weil dieser Europa in eine Dauerrezession treibe. Zur Freude von Merkel verkündete Draghi aber eine ganz andere Botschaft. Es gebe, erklärte er bei einem Vortrag nach dem Abendessen, innerhalb der Eurozone zwei Arten von Ländern: Jene mit einem Überschuss im innereuropäischen Handel und solche mit einem Defizit. Und nur letztere seien das Problem. Denn dort, in Spanien, Italien und Frankreich seien die Löhne seit dem Euro-Start weit schneller gestiegen als die Produktivität, also die Wertschöpfung pro Arbeitseinheit. Darum seien diese Länder nicht wettbewerbsfähig, darum fehle ihnen Wachstum und steige ihre Verschuldung. Und damit es auch jeder verstand, hatte er Schaubilder verteilen lassen: Da standen bei den Verliererländern steil in die Höhe schießende Lohnkurven über nur leicht steigenden Linien für den Fortschritt bei der Produktivität. Bei Deutschland dagegen liefen auf seinem Bild beide Linien bis zur Finanzkrise annähernd parallel. Folglich müssten die Defizitländer ihre Arbeitsmärkte reformieren, sprich, die Lohnkosten senken, verkündete Draghi. Besonders hoch sei der Reformbedarf in Frankreich. Daraufhin, so kolportierten Teilnehmer der Runde, soll Hollande nur noch betreten geschwiegen haben.

Das war ein Fehler. Draghis Grafiken waren ein plumper Trick, und Hollande hätte allen Grund gehabt, zu widersprechen. Der vermeintlich unpolitische Zentralbanker hatte Äpfel mit Birnen verglichen. Der Ökonom Andrew Watt vom Düsseldorfer Institut für Makroökonomie erkannte den „schwerwiegenden Fehler“ beim Blick auf die von der EZB veröffentlichten Grafiken sofort. Da waren die Werte für die Produktivität real berechnet, also nach Abzug der Inflation. Die Daten für die Lohnentwicklung dagegen hatte sich Draghi nominal auftragen lassen, ohne die Geldentwertung zu berechnen – ein grober Schnitzer, mit dem jeder Wirtschaftsstudent durchs Examen fallen würde.

Gleichwohl war der statistische Fehltritt des erfahrenen Bankers Draghi gewiss kein Versehen. Denn mit den richtigen Daten hätten die Grafiken ein ganz anderes Bild ergeben. Dann nämlich hätten die Kurven gezeigt, dass in Frankreich oder Spanien die Lohneinkommen – abzüglich der Inflation – parallel zur Produktivität zulegten. Was der technische Fortschritt an zusätzlicher Wertschöpfung ermöglichte, wurde prozentual auch auf die Löhne umgelegt, und so blieb der Anteil der Arbeitnehmer an der Wirtschaftsleistung weitgehend gleich. In Deutschland dagegen, so hätte es die Grafik gezeigt, sind die realen, inflationsbereinigten Löhne und Gehälter seit 2004 weit weniger gestiegen als die Produktivität, und der Anteil der Arbeitnehmer am Wirtschaftskuchen wurde fortwährend kleiner. Das allerdings verschaffte deutschen Unternehmen einen stetig wachsenden Vorteil gegenüber Konkurrenten aus den anderen Eurostaaten. Über Jahre – bis zum Ausbruch der Krise – legten die deutschen Exporte nach Euroland daher zu, und Deutschland produziert weit mehr, als es selbst verbraucht, während es bei den von Draghi kritisierten Defizitländern umgekehrt ist – ein Vorgang, der zwingend zur Verschuldung ihrer Volkswirtschaften im Ausland führt.

Unfreiwillig offenbarte Draghi so die ideologische Wucht, mit der er gemeinsam mit der Merkel-Regierung in ganz Euroland eine Politik durchsetzt, welche die Umverteilung der Einkommen von unten nach oben zur obersten Maxime erhebt. Alle Eurostaaten sollen sich am deutschen Modell orientieren und so lange die Löhne und die Staatsausgaben senken, bis sie die von Merkel geforderte „Wettbewerbsfähigkeit“ erreichen. Das entspricht dem von der Bundesregierung und ihren medialen Wasserträgern gepflegten Bild vom erfolgreichen Wirtschaftsriesen Deutschland, der sich nach den „schmerzhaften“ Reformen der „Agenda 2010“ von „verkrusteten Strukturen“ befreit hat und deshalb sowohl die Arbeitslosigkeit als auch das Staatsdefizit erheblich senken konnte. Frankreich dagegen und mit ihm die anderen Mittelmeerländer halten demnach an veralteten Strukturen fest und leben mit überhöhten Renten und Löhnen über ihre Verhältnisse.

Der Wirtschaft mangelt es an der nötigen Nachfrage

Doch so willkommen die niedrigen deutschen Arbeitslosen- und Schuldenquoten sind, so destruktiv ist die Krisenpolitik, die Merkel, Draghi und ihr Gefolge daraus ableiten. Denn sie blenden die tatsächlichen wirtschaftlichen Zusammenhänge aus. Das beginnt schon mit der einfachen Einsicht, dass Deutschlands Wirtschaft nur deshalb prosperieren konnte, weil die anderen Eurostaaten eben nicht denselben Weg gingen. Der größte Teil der zusätzlichen Produktion der vergangenen zehn Jahre, die Arbeitsplätze und Steuereinnahmen hierzulande sicherte, wurde ja nicht in Deutschland verkauft. Dafür mangelte es an der nötigen Nachfrage, weil die Agenda-Gesetze das Lohngefüge drückten und folglich der Binnenmarkt stagnierte. Umso mehr exportierte die deutsche Wirtschaft ins Ausland und davon wiederum den größten Teil nach Europa.

Das aber war nur möglich, weil die meisten anderen Eurostaaten bis zur Finanzkrise einen enormen Wachstumsschub erfuhren, der über steigende Löhne erst die Nachfrage für deutsche Produkte erzeugte. Damit war Frankreich auch höchst erfolgreich. Von 2001 bis 2010 legte die französische Wirtschaft trotz des Einbruchs nach dem Lehman-Crash um mehr als 11 Prozent zu, fast vier Prozent mehr als die deutsche. Auch die Beschäftigung wuchs in diesem Zeitraum in Frankreich um ein Drittel schneller als auf der anderen Rheinseite. Und sogar bei der Produktivität lagen die Franzosen vorn. Der Rückschlag kam erst, als Frankreichs Unternehmen die südeuropäischen Märkte wegbrachen.

Deren vorheriger Boom war allerdings mit hohen Inflationsraten einhergegangen. Eigentlich hätte die EZB dagegen vorgehen und über hohe Zinsen das Kreditangebot verknappen müssen. Doch die Frankfurter Euro-Hüter nahmen zugunsten der deutschen Wirtschaft die Preisexplosion in den Boomstaaten tatenlos hin und befeuerten noch den enormen Zufluss an Krediten aus dem Ausland. So wurden die Immobilienblasen und die Überkonsumption von Athen bis Lissabon finanziert, die den heutigen Krisenländern schließlich zum Verhängnis wurden. Oder mit den Worten des US-Ökonomen und Nobelpreisträgers Paul Krugman: „Deutschland glaubt, es sei aufgrund seiner eigenen Verdienste erfolgreich. Aber in Wahrheit beruht dies zu großen Teilen auf einem inflationären Boom im übrigen Europa.“

Das funktionierte jedoch nur, weil mit dem Euro ein stabiler Wechselkurs garantiert und den Defizitländern mangels eigener Währung eine Abwertung versperrt war. Ohne den Euro, so konstatiert Gert Wagner, leitender Ökonom des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), „wäre das deutsche Wachstumsmodell nicht umsetzbar gewesen.“ Der mittels Lohnverzicht „erzielte Wettbewerbsvorteil auf den Exportmärkten hätte unweigerlich eine Aufwertung der nationalen Währung – in diesem Falle der D-Mark – nach sich gezogen“ und „der Vorteil wäre dadurch aufgezehrt worden“. Zu Recht beklagt darum Präsident Hollande, „der überragende Wohlstand Deutschlands“ werde „auf Kosten der Eurozone erwirtschaftet“. Anders ausgedrückt: Deutschland hat auch die Arbeitslosigkeit exportiert.

Dazu schweigen Kanzlerin Merkel und ihr Finanzminister Wolfgang Schäuble aber stets. Stattdessen fordern sie von Frankreich und den anderen Mittelmeerländern eine Radikalkur, die gar nicht funktionieren kann: Selbst mit den härtesten Lohnsenkungen können die überschuldeten Eurostaaten keine ausreichenden Exportüberschüsse erzielen, um damit ihre Schulden abzutragen, wenn die bisherigen Überschussländer, also vor allem Deutschland, nicht bereit sind, ihnen das Gleiche zu bieten, was die Deutschen zuvor bei ihnen hatten: den nötigen Absatzmarkt. Dazu wären jedoch erhebliche Lohnsteigerungen und vermehrte staatliche Investitionen notwendig und Deutschland müsste ein Defizit in der innereuropäischen Leistungsbilanz hinnehmen.

Merkel und Schäuble betreiben dumpfen Wirtschaftsnationalismus

Doch die einfache Tatsache, dass des einen Landes Überschuss unvermeidlich anderer Länder Defizit sein muss, wollen Deutschlands Regierende nicht gelten lassen. Stattdessen beharrt Schäuble allen Ernstes auf der Behauptung, Leistungsbilanzüberschüsse seien „als unproblematisch einzustufen, wenn sie – wie im Falle Deutschlands – das Ergebnis hoher Wettbewerbsfähigkeit“ seien, wie es jüngst in einer Antwort seines Ministeriums auf eine Bundestagsanfrage hieß. Um die „Ungleichgewichte“ in der Eurozone zu überwinden, seien lediglich „Strukturreformen“ in den Krisenländern erforderlich.

So betreiben Merkel und Schäuble einen dumpfen Wirtschaftsnationalismus, wie er im Vorkriegseuropa üblich war und damals in die Große Depression führte. Darum hat der wachsende Zorn gegen die deutsche Dominanz in der Europolitik einen sehr rationalen Kern. Sogar die Ökonomen des Internationalen Währungsfonds und der OECD haben jüngst ausführlich dargelegt, dass die Krisenstaaten sich nicht aus ihrer Überschuldung heraussparen können. Trotzdem hält die Merkel-Regierung eisern an der über die „Rettungspakete“ abgepressten „inneren Abwertung“ in den Krisenländern durch Lohn- und Leistungskürzungen fest und führt die Eurozone in eine immer bedrohlicher werdende Abwärtsspirale.

Diese hat nun bereits Frankreich erreicht, aber auch Deutschland wird sich vor den Folgen nicht schützen können. Denn wenn es bei dem deutschen Irrweg bleibt, dann werden sich die Krisenländer früher oder später aus purer Verzweiflung gezwungen sehen, den Euroverbund zu verlassen und wieder nationale Währungen einzuführen. Mit deren folgender Abwertung würden auch die ausstehenden Schulden verfallen, Banken würden wie Dominosteine fallen und gerade die deutsche Wirtschaft würde – zurückgeworfen auf einen Nord-Euro oder gar die D-Mark – in eine tiefe Rezession stürzen.

Das kann gar nicht das Ziel der deutschen Kanzlerin sein. Würden Merkel und Schäuble sich wenigstens auf den von ihren eigenen „Wirtschaftsweisen“ vorgeschlagenen Schuldentilgungsfonds für die Eurozone einlassen, wäre schon viel erreicht. Die Kapitalflucht nach Deutschland fände ein Ende, die Zinssätze würden sich angleichen und auch die Unternehmen in den Krisenstaaten bekämen wieder Kredit zu bezahlbaren Konditionen, um zu investieren. Zwar würde die Zinslast für den deutschen Fiskus ein wenig steigen, weil der Fonds über gemeinsame Euro-Bonds refinanziert werden müsste. Aber das wäre nur recht und billig. Schließlich beschert das Fluchtkapital aus den Krisenländern Deutschland seit Jahren Negativzinsen für seine Staatsanleihen. Das hat der deutschen Staatskasse nach Berechnung des Kieler Instituts für Weltwirtschaft schon mehr als 70 Milliarden Euro an Zinszahlungen erspart. Könnten sich die Euro-Regenten zudem auf eine europaweit koordinierte Vermögensabgabe einigen, um damit in die Infrastruktur und das Bildungswesen der Krisenländer zu investieren, dann wäre das große europäische Projekt einer gemeinsamen Währung noch zu retten.

Umso tragischer ist, dass Merkel ihre Popularität darauf baut, genau das nicht zu tun. Indem sie als eiserne Sparkommissarin vermeintlich deutsche Tugenden europaweit durchsetzt, verkörpert sie für ihre von Abstiegsängsten geplagten Mittelschichtwähler das wohlige Gefühl von deutscher Überlegenheit. Damit ist sie so erfolgreich, dass sich nicht einmal ihre rot-grünen Opponenten trauen, dagegen anzutreten. Zur letzten Hoffung für die Eurorettung wird daher ausgerechnet die nahende Bundestagswahl. Mit ihrer dann beginnenden dritten Amtszeit steigen die Chancen, dass die Erbin von Helmut Kohl vielleicht doch nicht als die Totengräberin der europäischen Integration in die Geschichte eingehen will.

Schon mehrfach hat sie, so wie zuletzt beim Atomausstieg, bewiesen, dass sie im Notfall auch radikal den Kurs wechseln kann. Mit der absehbaren Eskalation der Eurokrise wird ein solcher Merkel-Moment dringender denn je.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false